Speeddating rund um die Welt

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Berlin, Belgien: Perhaps all the Dragons Copyright: Berlin – Foto: Marc Domage

Nichts ist spannender als die Wirklichkeit. Bei der Installation Perhaps all the dragons erzählen 30 Menschen Geschichten aus ihrem Leben und ihrer Ecke der Welt. Kleine Anekdoten, spannende Einblicke – und zwischendurch ein paar tiefschürfende Erkenntnisse. Besuch einer globalen Wundertüte.

„Die Russen hatten ihren zweiköpfigen Hund und wir Amerikaner mussten das übertreffen.“ Die Frau auf dem Bildschirm sieht mir verschwörerisch in die Augen. Seit fünf Minuten höre ich mir ihre Geschichte an. Sie ist meine erste Begegnung heute Abend.

Ich sitze an einem kleinen Holztisch in einem abgedunkelten Raum in den Tiefen des E-Werks. Neben mir 29 weitere Besucher und wir alle starren auf die Monitore vor uns. Von außen erinnert der abgeschirmte Stuhlkreis an einen Verhandlungstisch irgendwo zwischen UN-Rat und CIA-Geheimbunker. Nur sind wir nicht hier, um zu reden. Wir wollen zuhören. Und hinter den Bildschirmen warten Geschichten aus der ganzen Welt.

Perhaps all the dragons heißt die Installation, die das Künstlerduo BERLIN für das 19. Internationale Figurentheater-Festival nach Erlangen gebracht hat. Je 10 Minuten bekommt der Besucher Einblick in ein anderes Leben. Hinter den Monitoren wartet ein Potpourri aus Anekdoten und Erinnerungen, Witzen und Weisheiten aus allen Winkeln der Welt.

Dabei ist der erste Schritt der Entscheidende. Mit dem ersten Monitor entscheidet man sich für einen von 30 festgelegten Pfaden durch dieses Labyrinth der Kulturen. „Mir wurde gesagt, dass sich unter Ihrem Tisch ein Umschlag befindet“, raunt die Frau mir zu. „Darin finden Sie Ihre nächste Station.“ Spätestens jetzt fühlt man sich wirklich wie ein Agent.

Was ich an diesem Abend zu hören bekomme, ist eindrucksvoll: Ein Japaner weiht mich in die Kunst des Bonsai-Schneidens ein und präsentiert seine Lieblingsstücke wie ein stolzer Vater. Eine junge Frau meldet sich über skype aus ihrem Zimmer, das sie seit sieben Jahren nicht mehr verlässt. Und meine erste Gesprächspartnerin berichtet, wie sie Zeugin der ersten vollständigen Kopftransplantation wurde ‒ zum Glück nur bei einem Affen. Natürlich sind nicht alle Begegnungen gleich spannend. Bei einem britischen Professor, der sehr weitschweifend erklärt, warum er jedes Jahr Fremde zu seinem Geburtstag einlädt, merke ich, wie lang 10 Minuten sein können. Immer wieder schweift meine Aufmerksamkeit auf den Nachbarbildschirm, wo ein belgischer Sprachtrainer Mimik und Gestik meines Professors kritisiert.

Hier offenbart sich zum ersten Mal die fantastische Verzahnung der Installation: Die Monitore reagieren aufeinander. Die Erzähler verweisen auf ihre Nachbarn, kommentieren deren Geschichten, nicken zustimmend oder korrigieren. Zweimal plärrt ein Junge aus Belgien durch den Raum und die anderen 29 Gesichter verstummen irritiert. Besonders clever ist der Kaffeewagen, der irgendwann während Gespräch Nummer 4 seine Runde zieht, von Bildschirm zu Bildschirm wandert und Erfrischungen anbietet. So klein ist die vernetzte Welt.

Am Ende, nach 50 intensiven Minuten, stimmen die Monitore ein gemeinsames Lied an. Die Stimmen der Welt vereinen sich einen eindrucksvollen Moment lang, dann sind die Bildschirme schwarz und wir zurück im Keller des E-Werks. Sofort setzt Getuschel ein, nach einer Stunde Zuhören haben wir Besucher Gesprächsbedarf ‒ immerhin hat jeder seinen individuellen Weg hinter sich. Jeder hat andere Geschichten gehört und andere Bekanntschaften gemacht.

Am Ausgang wird mir ein zweiter Briefumschlag in die Hand gedrückt. Der Abend endet mit einem letzten Rätsel. „29 der Geschichten sind wahr.“

Simon Lukas

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