…Habe noch die allerletzte Weihnachtskarte verfasst, notiert Sarah Kirsch am Vorabend des 24. Dezember 2002. Im 2014 erschienenen Band Juninovember, ihre Notate von September 2002 bis März 2003, zeigt sie sich dem Leser als ein Spielkind im Worte und als geistreiche Kommentatorin des Alltags.
Die Nachrufe der 2013 im Alter von 87 Jahren verstorbenen Dichterin bezeichneten sie als „Erneuerin der Naturlyrik“, hoben ihren eigenwilligen Stil hervor, der ihrem Werk „Wort für Wort und Zeile für Zeile“ zu entnehmen sei. Dies gilt auch für die oben genannten Tagebucheinträge, die noch von Sarah Kirsch selbst für die Veröffentlichung bestimmt wurden. Darin hält sie in spielerischer Sprache lapidare Einzelheiten fest: zum Wetter, zu privaten Kleinigkeiten, doch auch zur Bemerkungen zur Weltpolitik. Dies alles vermengt zu lakonischen Kurztexten:
„25. Octopus 2002, Freitag
Es wurden einige Geiseln in Moskau entlassen. Der Heckenschütze von Washington wurde verhaftet. Wenn es der richtige ist. Angehörige der Moskauer Geiseln demonstrieren mit Schildern „Stoppt den Krieg in Tschetschenien!“ und es schließen sich andere an. Viele sind es nicht. Wir haben unseren Reistopf eingeweiht. Mit dem Chineser-Reis aus Halle an der Saale. Man muss unbedingt einen Reistopp haben. Schietwetter den ganzen Tag, nun kommt eine unerhört breite Regenfront.“
Selten übersteigen die in großer Regelmäßigkeit erfolgten Eintragungen die Länge einer halben Seite, stets in trockenem, umgangssprachlichem Ton, der hin und wieder freilich ermüdend ist. Zwischen den vielen kurzweiligen Trivialitäten, finden sich dann aber doch immer schöne Passagen wie diese: „Drei Tage nahezu keene Minute alleene das ist anstrengend für meine eremitische Person, kannst du mir glauben.“
Es wäre jedoch, zugegeben, etwas verkürzt, nur von den Albernheiten zu sprechen, die sich Kirsch nicht nur in den Monatsbezeichnungen (Jaguar, Zebra, Nerz) erlaubt. So notiert sie etwa für den 27. Dezember 2002 über ihre Katze:
„Es kann sein, dass Anna Blume uns verloren geht. Zwei Tage ist sie nicht gekommen, hatte auch keine Lust mehr zu fressen. Stak sehr locker in ihrem Pelz. Sie ist 16 Jahre alt. Ich habe mich seit einiger Zeit auf ihr Ableben eingestellt und etwas abgeschottet. […]“
Am Heiligen Abend indes – „Minus 4 Grad aber kein Schnee“ – schreibt Sarah Kirsch von klirrender Kälte: „Die Oberleitungen der Züge hier im Norden sind sämtlich vereist, die Reisenden mussten in Hotels untergebracht werden. Gab es keenen Heiligen Abend for manche.“
Timo Sestu
Sarah Kirsch: Juninovember. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2014, 196 S., € 19,99, ISBN: 978-3-421-04636-9.
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„Keenen Heiligen Abend“ – das, liebe Leserinnen und Leser, wünschen wir nur denjenigen, die sich frohen Mutes dazu entschieden haben. Allen anderen hingegen: Frohe Weihnachten und besinnliche Festtage!
Eure Redaktion