Der erste „gewöhnliche“ Poetry Slam im großen Saal des Ewerks. Sitzplätze für alle. Ein hell angestrahlter glücklicher Lucas Fassnacht vor blauem Vorhang. Die Poeten aus ganz Deutschland. Und die Texte? Möchte man herausragende Merkmale des Abends bestimmen, dann könnte man wohl „erhobene Zeigefinger“ und „Bizarrerien“ nennen.
Eröffnet wird der Abend von zwei Musikern aus Leipzig, die unprofessionelle Professionalität zu ihrem Programm gemacht haben: Byebye begrüßen das Publikum mit Selbstironie, als sie darauf hinweisen, wie sie ihre Gitarren mit Stimmgerät auf der Bühne stimmen und dabei nicht multitaskingfähig sind. Bescheidenheitstopos könnte man es nennen, es folgt nämlich durchaus hörenswerter Deutschpop, bei dem vor allem die Texte überzeugen. So ist in einem ihrer Songs zwischen einem Pärchen „irgendwas unklar“, da der Hauptfigur 5,5 Dioptrien fehlen. Ihre Band-Existenz begründen byebye mit der Fehlentscheidung bei der Studienwahl: Lehramt.
Moralapostel und Merkwürdigkeiten
Und irgendwie scheint dieser Beruf auch für die, die ihn tatsächlich ergriffen haben, nicht so richtig zufriedenstellend zu sein. So stellt Bybercap aus Erlangen in der ersten Slam-Runde einen von nicht abbrechenden Schülerpiepsstimmen genervten Lehrer dar und Ingo
Winter aus Lauf outet sich als Grund- und Hauptschullehrer. Er ist mit seinem Text durchaus in die Riege „Moralapostel“ einzuordnen, als er ein flammendes Plädoyer für eine Veränderung des Bildungssystems hält. Durchaus nachvollziehbar, aber der erhobene Zeigefinger erscheint dann doch überdeutlich, politischer Poetry Slam wird zu einem politischen Redebeitrag ohne allzu großen Einfallsreichtum bezüglich Inhalt oder Sprache.
Im Gegensatz dazu steht die zweite Auffälligkeit des Abends: Texte, die eher „merkwürdig“ sind, wie Andi Valent es ausdrücken würde, der in seinem Beitrag Wortteile hin- und herwendet und Wörter so auf ihren Gehalt überprüft: „Ist es nicht merkwürdig, wie das Wort merkwürdig es darstellt, dass etwas würdig ist, bemerkt zu werden?“ und warum darf man man Wörter wie „Schädelsprenger“ nicht mehr sagen und ersetzt sie durch „Kreuzmeißel“? Pathologisch wird es auch bei Kathi Mock, die „das Leben der Katja M.“ erzählt, die mehr oder weniger zufällig als Arbeiterin in einer Schlachterei Opfer von Verbrechen zu Hackfleisch verarbeitet, wobei eines Tages aufgrund eines Versehens auch der Boss des auftraggebenden Kriminellen diesem Verfahren zum Opfer fällt. Ähnlich bizarr außerdem der Text von Sylvie le Bonheur, der mit dem Streicheln eines Zebras beginnt, das auf der Straße aufgemalt ist.
Wut-Weigl
Obwohl diese Beiträge durch ein hohes Maß an sprachspielerischer und inhaltlicher Kreativität überzeugen, scheinen sie dem Publikum doch zu bizarr zu sein und so schafft es nur Andi Valent ins Finale. Sieger wird letztlich einer, der weder Moralapostel ist noch zu bizarr daherkommt: Paul Weigl aus Berlin, der vor allem durch amüsante Wutausbrüche überzeugt. Ein Wutausbruch bei der Ausführung der These, dass Deutschland einen Krieg verlieren würde (unter anderem deswegen, weil die Haupteinzugsgruppe aus BWL und Mediendesign-Studenten besteht, die gerade an ihrer Bachelorarbeit sitzen und deswegen keine Zeit haben) und ein Wutausbruch bei der dämlichen Smalltalk-Frage, welche seine Lieblingsjahreszeit ist, die, wie sich am Ende herausstellt, von einem kleinen Mädchen gestellt wurde, das schließlich verängstigt und traurig „Richtung Spree in der Dunkelheit“ verschwindet.
Vera Podskalsky
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