Der Rest der Nacht ist Martin Beckers erster Roman. Er beginnt mit einem Mann, der sein Elternhaus ausräumen lässt. Ein Jahr zuvor ist sein Vater gestorben, nun wird das Haus verkauft. Ein Schlussstrich. Das hatte der Mann, der aus der Ich-Perspektive erzählt, so geplant. Doch dann hält ihn die Stadt, in der er aufgewachsen ist, länger fest. „Die Stadt hat Klauen. Lange Finger hat sie, und die Finger wiederum haben lange Nägel. So sind ihre Klauen. Wenn du geboren wirst, dann legt sie ihre großen Hände um deinen Hals. Und drückt zu.“
Der Mann, um den es geht, hat keinen Namen – keinen, den der Leser erfährt. Und obwohl so viel Persönliches von ihm preisgegeben wird, bleibt er doch irgendwie anonym, namenlos. Es könnte jeder sein oder keiner. Das wird noch deutlicher, wenn der Autor Martin Becker die Perspektive wechselt. Zwischen die Passagen des Ich-Erzählers schleichen sich Kapitel in auktorialer Sichtweise. Damit enttarnt der Autor selbst, dass er sich diesen Mann und seine Geschichte ausgedacht hat.
Nicht mehr dasselbe Lächeln
Mit größerer Distanz, wie ein unbeteiligter Beobachter, analysierend und interpretierend, erzählt er von dem jungen Mann, der soeben erfahren hat, dass sein Vater gestorben ist:
„Wenn man ihn zuletzt, sagen wir, vor dem Café gesehen hätte, wo er seinen Salat mit Hähnchen gegessen und sein Bier getrunken hat, wenn man das Lächeln in dem Moment erblickt hätte, in dem er das Mädchen anruft, mit dem es noch was werden könnte, dann würde man im Vergleich zugeben müssen: Dieses Lächeln ist nicht mehr dasselbe. Es ist nicht mehr so, wie sollen wir sagen, unbeschwert. Es ist auch nicht zutiefst verstörend, der Mann lächelt jetzt halt wie ein Mann lächelt, aber, und da können wir uns ruhig zu großen Worten aufschwingen, in diesem Fall muss das erlaubt sein: Er hat die Unschuld verloren.“
Das ist eine Erklärung dafür, warum der Mann so ist wie er ist. Ein Jahr später noch leidet er unter Schlaflosigkeit, findet keine Ruhe. Die Dinge, die zu erledigen sind, will er möglichst schnell hinter sich bringen. Aber nicht alles verläuft nach Plan. Eigentlich verläuft überhaupt nichts nach Plan. Der Grundton des Romans ist resigniert, traurig und realistisch, man könnte auch sagen: pessimistisch. Von leichter Lektüre kann deswegen nicht die Rede sein. Wie könnte es auch, wenn das Hauptmotiv der Tod ist: Der vergangene Tod des Vaters und der bevorstehende Tod der Mutter. Eine schwierige Situation. Hedwig, die Mutter des Ich-Erzählers, erinnert sich nicht mehr an ihr altes Leben, also auch nicht an ihren Sohn. Um mit ihr sprechen zu können, gibt er sich als Feuerwehrmann und Postbote aus. Am Ende seiner Besuche will er ihr Gift spritzen. Sicher, die Frau ist alt und vergesslich – aber rechtfertigt das eine solche Tat? Ohne ihr Einverständnis? Das ist keine aktive Sterbehilfe mehr, sondern schlichtweg Mord. Ob er die Tat schließlich wirklich begeht?
Heiter ist dieser Roman sicher nicht, und er wird es auch nicht, als eine Liebesgeschichte zwischen dem Protagonisten und der Barfrau Maria entsteht. Maria mit den Augen, die „so traurig und so alt wie die Welt“ sind. Beide haben die schlechten Seiten des Lebens kennengelernt und sind, wenn man so will, nicht mehr unschuldig. Nur der auktoriale Erzähler lockert hin und wieder die graue Atmosphäre in dem Buch etwas auf. Die verschiedenen Perspektiven sind anfangs noch verwirrend, fügen sich am Ende allerdings logisch zusammen – wenn man als Leser aufmerksam ist und die Einzelteile des Puzzles in seiner Vorstellung aneinanderreiht. Am Ende entsteht das Bild eines Mannes, der einen Tiefpunkt in seinem Leben erreicht hat und trotzdem weitermacht. Irgendwie. Die Stimmung kann dieser Roman beim Lesen nicht aufhellen. Will er aber auch nicht.
Patricia Achter
Martin Becker: Der Rest der Nacht Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 208 Seiten
ISBN: 978-3-630-87360-2
19,99 Euro
Luchterhand Literaturverlag