Martin Beyer schuf mit „Alle Wasser laufen ins Meer“ einen gut recherchierten Roman über den Dichter Georg Trakl. Trakls Werke sind anspruchsvoll, von manchem als „schwere Kost“ empfunden. Martin Beyer ist es in seinem Roman gelungen, die Komplexität von Trakl, dessen Hang zur Schwermut und die Entstehungsgeschichte einiger Gedichte spannend lesbar aufzuzeichnen. Der Leser taucht ein in das Leben der untergehenden K&K-Monarchie, fühlt die Sehnsucht einer aussichtslosen Liebesgeschichte, erlebt die Besessenheit und den Schaffensdrang eines sich oft unverstanden fühlenden und ewig suchenden Dichters. Martin Beyer rekonstruiert gewissenhaft das Leben von Georg Trakl. Mit psychologischem Gespür beschreibt er Trakls Selbstzweifel, Ängste, Gedanken und Entscheidungen. Es scheint, als habe Trakl Beyer zu seinem Biographen bestimmt. Besonders berührend ist Beyers Feingefühl und Bedachtsamkeit, um objektiv und ohne Verurteilung Georgs tiefe Liebe zu seiner Schwester Grete zu beleuchten.
Beyer schildert chronologisch die Lebensetappen, die Trakl zurücklegt. Er beschreibt dessen Vorwärtsdrängen als Jugendlicher, die Ungeduld, sein Zweifeln. Sein Schreiben und die Erkenntnis: Etwas erzählen zu haben, etwas erzählen zu müssen. Die schon im Jugendalter aufbrechende Todessehnsucht in ihm, seinen Ekel vor sich selbst, den der mit Rauschmitteln jeder Art zu betäubt. Trakl absolviert seine Ausbildung als Apotheker, um legaler an die gewünschten Drogen zu gelangen. Trakl hasst sich selber dafür und hofft innig, „das Reine und Klare“ zu entdecken. In seiner Schwester Margarete, einer begabten Pianistin, findet er eine Seelenverwandte. Nach intensiver platonischer Innigkeit überschreiten beide bewusst die Grenzen und fürchten zugleich den Übertritt. Der Bruder lebt zwischen Verzweiflung und Lust. Während Georg nun viele Teile seiner ergreifenden Dichtung erschafft, bleibt Grete in ihrer Entwicklung stehen. Sie verliert ihre positive Lebenseinstellung, scheitert an mangelnder Selbstdisziplin und menschlicher Unterstützung, um einen Weg als erfolgreiche Pianistin beschreiten zu können. Sie verliert sich, denn sie liebt. Ihren Bruder und dessen schüchternen zurückhaltenden Freund Erhard Buschbeck.
Beyer beschreibt die Wege, die in den Abgrund führen, zwangsläufig führen müssen mit der Präzision eines genau hinschauenden, distanzierten Beobachters. Die Figuren erzeugen genug Tragik in sich selbst. Man liest diesen Roman emotional, taucht ein, möchte in die Handlung eingreifen, mahnen, flehen und trösten. Aber alles ist schon geschehen. Nur archivierte Briefe und Georgs Gedichte zeugen von diesen vergangenen Zeiten.
Der Schmerz, eine Sehnsucht, die durch die Unmöglichkeit einer Erfüllung quält, steigert sich für die Geschwister ins Unerträgliche. Grete wird wie ihr Bruder kokainabhängig. Der Weg abwärts beschleunigt sich. Das Scheitern der ehemals schwärmerischen und lebenslustigen Schwester passt zu den dunklen Tönen dieser Lebensgeschichte. Als Grete ihr uneheliches Kind gegen Ende der Schwangerschaft verliert, reist Georg in großer Sorge um sie nach Berlin. Dort findet er nur noch einen Schatten seiner ehemals schönen Schwester. Gemeinsam fahren sie zum Wasser, um „das Leben zu verabschieden“. Es ist egal, wer der Vater dieses Kindes gewesen sein mag. Die Szene der nebeneinander stehenden Geschwister am See, ihre beider verzweifelte Suche nach Halt und die Sorge Georgs nach Gretes Schwächeanfall könnte nicht inniger sein.
Martin Beyer erzählt diesen Roman als sachlicher Betrachter. Er nutzt Tagebucheinträge, Briefe und Bildmaterialien. Von dem Schriftwechsel zwischen Grete und Georg sind jedoch keine wirklichen Korrespondenzen mehr erhalten. Beyer bedient sich daher Photographien und Zeitzeugenberichten, um diese Lücke zu füllen. Schließen kann man sie sicherlich nicht.
Der Roman weckt Interesse, sich mit dem Menschen und Dichter Georg Trakl und der Zeit, in der er lebte, vertraut zu machen. Am einfachsten wäre es, gleich danach die Gedichtbände von Trakl in die Hand zu nehmen. Man würde nun anders, inniger und bewusster Trakls Dichtung lesen. Und verstehen.
Zusammenfassung: Sollte nicht im Reisegepäck fehlen! Ein ernstes, fesselndes und tief berührendes Buch. Für alle Leser, die in ein Buch eintauchen wollen. Und für die, die etwas über Georg Trakl und sein Leben erfahren möchten.
Uta Hoess
Martin Beyer: Alle Wasser laufen ins Meer. Stuttgart: Klett-Cotta, 2009. 240 S., € 18,90, ISBN 978-3-608-93609-4.