Die Reise in der Reise

 

Ich packe in meinen Koffer... (Photo: Uta Hoeß)

Ich packe in meinen Koffer…
(Photo: Uta Hoeß)

Für den aktiven Urlauber wären Kurzgeschichten genau das Richtige. Sie erlauben dem Leser, sich in kurzer Zeit in die phantasievolle Welt eines unbekannten Autors zu vertiefen oder sich von dessen stilistischer Vielfarbigkeit verführen zu lassen – ohne jedoch ganztägig im Hotelzimmer bleiben zu müssen. In Histoire du Pied et autres fantaisies  oder in der deutschen Übersetzung: Der Yama-Baum und andere Geschichten zieht uns der französische Autor und Nobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clezio in eine amüsante, tragische und poetische Meditation hinein. – Eine Literaturkritik von Pierre Rousseaux

Der Autor offenbart dem Leser Lebensperspektiven. Sei es in der sentimentalen Biographie einer jungen Frau aus der „Sicht“ ihrer Füße, oder in der Geschichte der jungen Dichterin L.E.L., die vor den Verleumdungen der Londoner Gesellschaft flieht und sich für eine geheim gehaltene Ehe in einer britischen Kronkolonie in Westafrika entscheidet. Dort bewacht ihr Mann, der als Gouverneur und als Gatte einiges zu verbergen hatte, sie eifersüchtig. L.E.L. verstirbt bald unter mysteriösen Umständen. Le Clezio ersinnt und erdichtet das Leben der jungen Frau in den letzten Monaten ihres Exils.

Der Autor stößt den Leser in seinen Geschichten mitten in eine imaginäre Großstadt hinein, wo die Hauptfiguren  ihren Alpträumen und unsichtbaren Feinden zu entfliehen versuchen. Oder er stellt Märchenelemente zusammen, die immer wieder an das Schicksal von Frauen- oder Mädchenfiguren in einer unerbittlichen Welt erinnern, da, wo die Liebe um das Leben ringt und die Armut um eine ertragbare Existenz kämpft. Die Geschichten im Buch erzählen von Sehnsüchten, von Reisen, von jungen Liebespaaren, von Kämpfen um Freiheit. Von Terroranschlägen und Waisenkindern. Eine weite intensive Thematik.

Jean-Marie Gustave Le Clezio sinniert im Nachwort À peu près Apologue über die Worte von Schopenhauer. Dieser sah drei Autorentypen: Die einen, die nichts zu erzählen haben (der Philosoph ignorierte sie gern). Die zweiten, die von der Notwendigkeit beseelt sind, etwas zu behaupten und schließlich diejenigen, die sich in ein Abenteuer werfen wie unerfahrene Jäger, die das Risiko eingehen, ohne Beute zurückzukehren. Währenddessen überlegen sich die anderen, was sie zu sagen haben, wie jene Jäger, die mit Hilfe der Treiber das Wild versammeln und erst dann mit ihrem Werk beginnen. Le Clezio verhehlt in seinem Nachwort nicht, dass er sich dem abenteuerlichen Schriftsteller näher fühlt.

So entstehen seine überzeugenden Figuren und lebendigen Erzählungen. Er geht in das Leben, erlebt zufällige Begegnungen im Vorbeigehen und findet Impulse, z.B. ausgelöst durch ein Betrachten der Mitfahrgäste in der Metro. Ein bereicherndes Buch zum Mitnehmen, Lesen und Wiederlesen und Entdecken.

Pierre Rousseaux

 

JMG Le Clezio. Histoire du Pied et autres fantaisies. Verlag Gallimard nrf „Collection Blanche“, ISBN 978-2-07-013634-6. Preis 22,00 Euro

JMG Le Clezio. Der Yama-Baum und andere Geschichten, übersetzt von Uli Wittmann, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013, ISBN 978-3-462-04560-4. 19,99 Euro

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