Eigentlich wollte ich nur kurz ins Teehaus und mich bei einer Tasse Darjeeling ausruhen. Als ich jedoch an der Auslage des kleinen Buchladens in Sichtweite der Brauerei vorbeischlenderte, überkam mich die Leselust. Und was könnte besser zu einer Tasse Tee passen als ein Buch. Die Inhaberin musterte mich, stellte mir zwei Fragen und legte mir dann behutsam ein Buch auf den Tresen. „Antworten am Wegrand“ von Philippe Jaccottet. Ich blätterte, las und war sofort von diesem Buch verzaubert.
Einige Stunden später, nach ungezählten Tassen Tee, klappe ich das Buch zu. Ich habe „meine“ Antwort am Wegesrand gefunden. Die alten Bäume im Schlossgarten sehen heute besonders schön und grün und ehrfurchtsvoll aus. Nachwirkungen des Buches, die noch lange anhalten werden.
Im französischen Original wurde das Jaccottets Buch unter dem Titel Cahier de verdure, „Heft des Grünen“ erstmals aufgelegt. Es geht um die Frage nach dem Wesentlichen im Leben. Dieses sucht und findet Jaccottet in Bäumen, auf Wiesen, in Grashalmen, die sich im Wind bewegen, in einer unscheinbaren Blume, die unter seiner Betrachtung erblüht.
Die Sprache des Autors mag manchem Leser anfänglich etwas eigen erscheinen, ungewöhnlich, aber bald sehr anziehend.
Manchmal denke ich, wenn ich immer noch schreibe, dann ist es oder sollte es vor allem sein, um die mehr oder weniger leuchtenden und überzeugenden Fragmente einer Freude zusammenzutragen, von der man versucht wäre zu glauben, sie sei eines Tages, vor langer Zeit, explodiert wie ein innerer Stern und habe ihren Staub in uns ausgestreut.
Die Seiten lesen sich wie Tagebucheinträge, verknüpft mit Lyrik und Prosa. Laute und leise Gedanken, denen der Autor nachsinnt und dabei in blühenden Quittenbäumen „das Allerschönste“ entdeckt.
Aber auch tiefsinnige Fragen nach dem Bedeutsamen, der Zuflucht und des Seins versucht Jaccottet zu ergründen und bemerkt dabei:
Man muss die Dinge sagen, wie sie waren, aber genau damit beginnen die Schwierigkeiten.
Doch Jaccottet spaziert weiter, pflückt Wegwarte, Kreuzkraut und Bärenwurz. Betrachtet die Natur und schreibt auf, wie das Grün zu uns sprechen will. Als Leser möchte man nicht stehen bleiben, man liest weiter und weiter. Wohin geht der Weg? Wo befindet sich nun die wahre Zuflucht? Die innere Ruhe?
Vielleicht hat sich ein unsichtbarer Teil von uns selbst in diesen Blumen geöffnet. Oder es ist ein Meisenflug, der uns anderswohin trägt, man weiß nicht wie. Verwirrung, Verlangen und Furcht sind ausgelöscht für einen Augenblick; Tod ist ausgelöscht, für die Zeit einiger Schritte am Wiesenrand.
Die letzte Seite. Die letzte Zeile.
Als ich das Buch zuklappe, scheint ein Grashalm herauszulugen. Das Summen der Bienen auf der Sommerwiese wird langsam leiser, ferner. Der Wind, der durch das Grün der Baumblätter strich, beruhigt sich. Sehnsucht nach draußen. Ich gehe in den Schlossgarten und finde „meine“ Antwort am Wegrand: Das Leben ist wunderschön!
Zusammenfassend: Dieses Buch ist unbedingt empfehlenswert für Leser, die die „andere Lektüre“ suchen und sprachliche Tiefsinnigkeit lieben. Für Leser, die in einem Buch spazieren gehen und frische Wiesenblumenluft atmen wollen.
Philippe Jaccottet: Antworten am Wegrand. München: Hanser, 2007, 80 S., € 12,90, ISBN 978-3-446-20954-1.
Uta Hoess