Der Tod lauert überall. Da verwundert es nicht, dass er auch ein universelles Thema ist. So könnte nahezu jede wissenschaftliche oder künstlerisch-kulturelle Disziplin den Tod in sein Ressort aufnehmen. Doch das alleine war nicht das interdisziplinäre Ziel des Journalisten Bartholomäus Grill. Sein Buch Um uns die Toten. Meine Begegnungen mit dem Sterben bringt den Leser zum Nachdenken über den Tod und den bietet dazu sowohl einen phänomenologischen als auch individuell-autobiographischen Umgang damit. Beides scheint sinnvoll zu sein, da doch keiner diesem Untersuchungsobjekt entfliehen kann.
Der Autor, Jahrgang 1954, wurde unehelich geboren. Die Eltern heirateten zwar, aber das Stigma schien prägend. Noch mehr wurde er jedoch von seiner sehr katholischen Erziehung geprägt, der Grill zu entfliehen versuchte, was ihm aber mittel- und langfristig misslang – ein Fakt, die sich wie ein roter Faden durch das ganze Sachbuch zieht, oft auch durch seine enorm kritische Haltung zum Katholizismus.
Das Werk ist anspruchsvoll und hat trotzdem einen flüssigen Stil. Es liefert fruchtbare Anregungen, die unterstreichen sollen, dass mit zunehmendem Alter „die Einschläge immer näher kommen“, wie Grill es formuliert; sprich, der Tod ereilt jeden, und wir sollten uns davor nicht verschießen. Grills Duktus ist klar, sachlich und doch auch mit Empathie, und bringt eigene Empfindungen ein. Um uns die Toten ist damit ein literarisch-stilistischer Hybrid im besten Sinne: Die sachlich-journalistischen Textpassagen zu Tod und Leben, aus philosophischer, theologischer oder sozialwissenschaftlicher Perspektive, werden durch rein subjektive und autobiographische Teilkapitel komplettiert und hauchen den Texten so Emotion und Leben sein, ohne in rührseliges Mitleid abzugleiten. Dadurch macht es eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Materie Tod möglich oder – wie der Schriftsteller Peter Weiss von Grill zitiert wird – „mit all den Toten in uns, unseren eigenen Tod vor Augen, zwischen den Lebenden dahin zu balancieren“.
Hybrid des Todes
Der autobiographische Part um fasst den Zeitraum von 1958 bis 2004. Die Erinnerung eines vier Jahre alten Jungen an den Tod des Großvaters bis zu den Erinnerungen des 50 Jahre alten Journalisten an den Tod des Bruders. Zunächst schildert er sein Einfügen in den katholischen Kontext, der später aber als Jugendlicher über Tod spottete und in esoterischen Séancen mit Karl Marx und James Dean in Kontakt treten wollte.
Als Auslandskorrespondent hat Grill auch die Epoche nach dem Umstürzen in Osteuropa miterlebt, nämlich 1989 in Rumänien erlebt, und berichtete für die ZEIT über die Gräuel und das Abschlachten von Menschen in Temeswar, durch die Securitate. Grill ist ehrlich genug, um zuzugeben, dass er, nach einem Gespräch mit der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller und weiteren Nachforschungen, zugeben musste, dass ganz normal gestorbene Menschen von der Putschistenfraktion für die Presse „arrangiert“ wurden. Er berichtet auch über Aids, vor allem in Afrika, den Völkermord in Ruanda und andere tödlich-historische Ereignisse.
Drei private Todesfälle haben den Verfasser sehr geprägt, der Tod der Mutter und nun mutterseelenallein zu sein; der Tod der behinderten Schwester, über die, in der Familie nicht gesprochen werden durfte, und die, auf Anweisung des Vaters, nicht im Familiengrab beigesetzt werden durfte; und der assistierte Suizid bei seinem unheilbar kranken Bruder Urban. Die eindrucksvolle Geschichte seines Bruders liest sich wie ein Plädoyer für das Recht eines Totkranken selbst über Leben und Sterben entscheiden zu dürfen und eine Reformierung des Sterbehilfegesetzes in Deutschland.
Tödliche Einsamkeit und Sterbehilfe
Gleichzeitig geht er auf die Anonymisierung und Privatisierung des Sterbeprozesses ein: Der Mensch stirbt allein im Heim, Krankenhaus oder Hospiz mit ausgebildetem Personal, aber nicht in vertrauter Umgebung und sehr oft ohne Angehörige. Die tödliche Einsamkeit und die medizinisch oft unerträglich verlängerte Phase des Sterbens sind Grill ein unnötiges Gräuel, das durch aktive Sterbephase umgangen werden könnte. Kritisch zu sehen ist hier jedoch die Einseitigkeit, mit der Grill in der Sterbehilfedebatte argumentiert.
Grills Buch bietet viele – teils schon altbekannte, teils auch relativ unbekannte – Informationen und Fakten, die sich mit der Thematik Tod und Sterben in seiner Pluralität auseinandersetzen – man könnte sagen, Grill legt eine kurze Phänomenologie des Todes vor – jedoch in höchst subjektiver Weise, die sich zwar um Sachlichkeit, nicht aber Voreingenommenheit bemüht. Denn ist Um uns die Toten ist sachlich und rührend zugleich. Ein sehr ehrliches Buch!
Bartolomäus Grill: Um uns die Toten. Meine Begegnung mit dem Sterben, Siedler Verlag, München 2014. Gebunden, 224 Seiten, 19,99 Euro. Weitere Informationen gibt es unter: http://www.randomhouse.de/Buch/Um-uns-die-Toten-Meine-Begegnungen-mit-dem-Sterben/Bartholomaeus-Grill/e427948.rhd.
Gabriele Dingeldey
Philip Dingeldey