„Als ich fünf war, fiel mir die heilige Maria auf den Kopf und ich merkte, wie schwer der Glauben sein kann.“

Im Rahmen der Reihe „Seitensprünge“ der deutsch-polnische Autor Artur Becker in der Stadtbibliothek zu Gast und stellte seinen neusten Roman „Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang“ vor, das im September letztes Jahres erschienen ist. Der etwas sperrige Titel entpuppte sich als Bibelzitat, genauer gesagt als Psalm 113:3, und auch das Gespräch mit Artur Becker drehte sich Vieles um Religion, um Glaube, Politik und die Institution der Kirche.
Mit den Worten „Ich hoffe, sie können meinen Dialekt verstehen“ begann Artur Becker, der in Polen aufgewachsen und seit 1985 in Deutschland lebt, seine Lesung. Seinen Titel beschrieb er selbst als „genial“ und natürlich handele es sich um ein Zitat, denn einen solchen Titel könne man gar nicht mehr erfinden. Bescheiden ist er nicht unbedingt, aber ein hervorragender Leser und kluger Kopf, wie sich im Laufe des Abends herausstellen sollte.

In „Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang“ geht es um zwei Menschen im mittleren Alter, Mariola und Arek, Cousin und Cousine, die am Totenbett von Mariolas Vater Karol sitzen, einem ehemaligen Fabrikarbeiter, der ganz plötzlich gestorben ist und den eigentlich auch niemand so recht vermisst. Arek und Mariola begegnen sich das erste Mal seit Jahren wieder und werden in die Vergangenheit zurückgeworfen. Vom Totenbett aus erinnern sie sich, nackt nebeneinander liegend, an eine vergangene Liebesgeschichte, die es eigentlich gar nicht hätte geben dürfen.

Becker selbst beschrieb viele seiner Sätze als Bandwurmsätze. „Solche Sätze kann man nur schreiben, wenn man mehr als zehn Bücher geschrieben hat und über 40 Jahre alt ist“, sagte er, nicht ohne Selbstironie. Inspiriert worden zu dieser Geschichte sei er durch einen früheren Freund von ihm, der, so wie die Figur des verstorbenen Karol, eine Fabrik leitete und eines Tages alle Mitarbeiter entlassen hatte. Generell wurde in dem Gespräch nach der Lesung viel über die Vergangenheit gesprochen, über Beckers Kindheit in Polen, den allgegenwärtigen und dominierenden Katholizismus und über große russische Schriftsteller wie Dostojewski. Frühere, große Schriftsteller, so Becker, hätten die wichtigste ontologische Frage der polnischen Literatur viel mehr in den Fokus gerückt, als dies heute der Fall sei. Die Fragen, von der er sprach, lautet: Wer bin ich? Was bin ich? Und wie bin ich so geworden, wie ich bin? Auch darum geht es in Beckers Buch. Es ist ein Spiel mit den Identitäten, ein ernsthaftes Spiel zweifelsfrei. Die Beschäftigung mit diesen Fragen mag auch ein Grund gewesen sein, warum Arek und Mariola eben nackt nebeneinander liegen, weil um die nackte, die wahrhaftige, freigelegte Identität eines Menschen geht. Becker wirft die Frage in den Raum: „Wo ist das Ich hinter dieser Nacktheit?“ Die Parallelen zum Sündenfall sind nicht zu leugnen, aber nur, weil das Buch auch den Katholizismus zum Thema hat. Becker las eine fast schon grotesk anmutende Szene, in denen Arek einem wiedergekehrten Jesus Christus begegnet. Augenzwinkernd bemerkte Becker: „Ich nehme an, Sie wissen alle, wer Jesus Christus war?“ Eine Frau aus dem Publikum antwortete: „Die Frage ist heutzutage ja berechtigt“ und lenkte das Gespräch damit auf den Glauben und die Glaubenskritik.

Becker, der sich selbst eine sozialistische, katholische Identität zuschreibt, kritisiert den Mangel an Glauben genauso wie die festgefahrenen Strukturen der Institution Vatikan. Aber, so Becker, manche Kirchengegner äußerten so dumme Argumente gegen die Kirche, dass ihm die Haare zu Berge stünden.

All diese Motive, den Abfall vom Glauben, die Wende 1989 und die damit einhergehenden Veränderungen für Ost und West, seine Kindheit und die ontologische Frage nach der eigenen Identität wollte er zu einem großen metaphysischen Band verknüpfen, eine große, mächtige Geschichte erzählen. Und er wollte bewusst wieder die Religion als Thema in die Literatur einführen, zeigen, dass sie immer noch interessant sein kann, immer noch Fragen aufwirft wie: „Können wir nach Atombomben noch an Gott glauben?“

Als Becker nach seiner eigenen Identität gefragt wurde, antwortete er, dass er sich als polnischen Emigranten in Deutschland betrachtet und nicht, wie oft fehlerhaft zitiert, als deutschsprachigen Autor. Ebenso wie ein Mensch mehrere Identitäten besitzen kann, resümierte Becker, so kann ein Mensch, kann ein Dichter auch mehrere Sprachen besitzen. Es sei sogar absurd, Dichter von nur einer einzigen Sprache zu sein. So kann der Titel „Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang“ auch anders interpretiert werden, nämlich als das Wachsen und das Vergehen einer Sprache. Der Titel mag auch diesen Prozess der Zerbrechlichkeit beschreiben.

Der Roman gibt also einen nahezu apokalyptischen Ausblick. Es endet in der Zukunft und macht die Zukunftsangst des Autors durchaus auch sichtbar. Becker stellt die Frage: Wohin mit der Menschheit? Soll sie weiter existieren dürfen oder nicht? Anfangs sagte der Autor, es ginge ihm nicht um Nostalgie. Und doch endete das Gespräch wieder beim Themenkomplex seiner Kindheit und er schloss mit den Worten: „Ich werde noch ein Gedicht von 1998 vorlesen, damit diese Lesung einen friedlicheren Ausgang hat, als mein Roman.“ Womöglich schlich sich durch den Mantel der Zukunftsangst doch ein wenig Nostalgie, doch ein wenig Sehnsucht nach den bekannten, vertrauten, aber vergangenen Strukturen auf. Vielleicht war dies aber auch nur ein Eindruck. Man weiß es nicht.

Julien Dopp

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