Und… hops!

Foto: Andreas Donders

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„Im Absprung“: Eine Mutter, die sich von der Klippe stürzt. „Im Absprung“: Ein Sohn, der den gewaltigen Sprung in ein Leben versucht, das nicht mehr von schmerzhaften Erinnerungen bestimmt wird. „Ich bin 31 Jahre alt und mein Leben beginnt neu“. Romy Kuhn beschäftigt sich im Stück „Im Absprung“ von den Cammerspielen Leipzig mit der Psyche derjenigen, die bei psychischen Leiden häufig vergessen werden: die Angehörigen der Erkrankten.

In mehreren Reihen hängen von der Decke übergroße weiße Kleider mit roter Schleife herab, die bis zum Boden reichen. Sie dienen als Versteck, Krankenbett, Bäume oder Vorhänge. Manchmal sind die Figuren in ihnen gefangen, können dann nicht fliehen vor schrecklichen Erinnerungsbildern. Und einmal wird ein Kleid immer enger eingedreht, zeigt, wie die Situation unausweichlich in den Selbstmord der Mutter führen wird.

Der auf dem Roman „Klippen“ von Olivier Adam basierende Text erzählt aus Perspektive des jüngeren Sohnes eine Familiengeschichte. Angefangen bei der Kindheit, von der völlig harmlose und erschreckende Erinnerungen nebeneinander stehen, bis hin zu heute, als der erwachsene Protagonist auf dem Balkon eines Hotelzimmers steht und auf einen Ort blickt, an dem seine Mutter sich umgebracht hat, als er elf war.

Drei Schauspieler, Nina Maria Föhr, Stefan Schleue und David Müller, schlüpfen abwechselnd in die Rolle des Ich-Erzählers. Ansonsten illustrieren sie den Abend vor allem: Mal sind sie der große Bruder, mal Freunde, und tun das, was der erzählte Text vorgibt. Ein Höhepunkt ist die Erinnerung an das Krankenbett, in dem der große Bruder liegt, als er nach der Beerdigung der Mutter für sechs Wochen ins Koma fällt Die verzweifelte Überzeugung des kleineren Bruders, dass das Koma seines starken, großen Bruders nur vorgetäuscht sein kann gipfelt in der fieberhafte Anstrengung, ihn mit allen Mitteln aus diesem Zustand herauszulocken: „Ich muss dir ein Geheimnis verraten. Mama ist wieder da“. Keine Reaktion. Und dann die Erniedrigung: „Igitt! Du hast echt ins Bett geschissen. Wie widerlich du bist.“

So berührend wie dieser Einblick in die Brüder-Beziehung gelingen allerdings kaum andere Szenen des Stücks. Schon nach einigen Andeutungen zu Beginn ist die Ausgangslage klar, und bis die Situation ausführlich zu Ende geschildert ist, ist die Spannung längst abgefallen. Sorgfältig erzeugte Subtilität in der Behandlung des Themas wird plötzlich wieder zerstört, wenn beispielsweise der Protagonist in ein paar Nebensätzen auch noch von der Freundin erzählt, die an Bulimie erkrankt, und die Geschichte dadurch mit Problemen überladen wird. Manchmal scheint wiederum das Verhältnis zwischen Erzählung und Schauspiel im Ungleichgewicht: Im Text aufgerufene Nuancen verlieren durch übertriebene Darstellung ihre Feinheit, eine Kinderspielszene erscheint fast grotesk.

Weniger wäre manchmal mehr gewesen: So wird der nur als Schatten hinter den Kleidern zu erkennende Geschlechtsverkehr zwischen dem Protagonisten und seiner Freundin dann albern, als sich die Schauspieler zusätzlich auf die Schenkel klopfen, um laute Klatschgeräusche zu erzeugen.

Foto: Andreas Donders

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Zu viel ist auch die Vielstimmigkeit: So reicht es nicht, dass drei Schauspieler abwechselnd den Protagonisten sprechen; sie sprechenihn auch mal mit, mal ohne Mikrofon, manchmal aus dem Off eingespielt – ohne dass hierdurch zusätzlich Bedeutungsebenen entständen.

Erst am Ende des Stücks gelingt es wieder, die anfänglich angedeutete Spannung zu erzeugen. Erzähl- und Spielebene fließen harmonischer ineinander, als der Ich-Erzähler sich intensiv in die schlimmste Erinnerung begibt: die des Suizides seiner Mutter. Der Zuschauer blickt in verschwitzte, verzweifelte und schmerzverzerrte Gesichter, als die Schauspieler immer schneller und angestrengter auf der Stelle rennen und erfasst da ansatzweise, was es bedeutet, „im Absprung“ zu stehen.

Vera Podskalsky

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