„Medea“, die jüngste Inszenierung von Barish Karademir, feierte am Samstag Dernière. Ein herrlich vielschichtiger Abend, der viel Raum für Interpretationen lässt. Ob es das Licht ist, das die jeweilige Stimmung unterstreicht, die genauen Bewegungen der Tänzer, oder ein Apfel, der von einem Mund zum anderen gereicht wird:
Eine Kritik kann diese Inszenierung nie komplett abdecken- ebenso wenig wie der Zuschauer alles auf einmal erfassen kann, was Barish Karademir sich für seine Umsetzung überlegt hat.
Medea ist eine der bekanntesten griechischen Tragödien. Die Königstochter Medea wird für ihre Liebe zu Jason mehrfach zur Mörderin, ehe er sich in eine fremde Prinzessin verliebt und die Mutter seiner Söhne verlässt. Aus Rache tötet Medea erst die Verlobte und deren Vater und zuletzt die gemeinsamen Söhne.
Das Stück beginnt. Zwei Kinder treten vor den Vorhang und singen „He ho, spann den Wagen an“, während sie sich mit Holzschwertern duellieren. Das eine der beiden ist ein Mädchen. Man wundert sich! Schließlich ist in der Vorlage von zwei Söhnen die Rede. Doch darum geht es unter anderem in dieser Inszenierung: Starre Geschlechterrollen, wie sie uns prägen und doch eigentlich nur ein Ausdruck einer androgynen Gesellschaft sind (doch dazu später mehr). Wer die Geschichte Medeas kennt, der versteht die Ironie des Liedes: Nach dem Mord an ihren Kindern wird Medea mit dem Wagen des Sonnengottes Helios flüchten.
Der Vorhang lüftet sich und offenbart das erste Bild: Eine dreistöckige Hochzeitstorte (eckig), die aus den Planken der Argo gezimmert ist. Auf ihr thront alleine und von Jason verlassen: Medea. Stufen führen zu ihr hinauf. Sie, die sich auf dem moralischen Podest aufhält (das zeitweise auch an ein versinnbildlichtes Ehebett erinnert, spätestens wenn sie sich darauf herumwälzt), begibt sich nur begründet und somit erstaunlich spät erst herab, um König Kreon um Beistand und um Gnade zu ersuchen, der sie wegen übler Rede und schlimmer Vergangenheit – und nicht zuletzt, weil er um das Wohl seiner Tochter fürchtet- aus dem Reich haben will.
Wir sind immer noch im ersten Bild. Es treten unter anderem die beiden rätselhaftesten Figuren in dieser Inszenierung auf: ein weißgekleideter Herr mit roten Lippen, gespielt von Murat Seven, der in einer weißen Säule, die zugleich sein Gewand ist, zu Boden schwebt, der Blick in die Ferne entrückt. Auf der anderen Seite des Kuchens bohrt sich das Böse, Dämonische aus dem Boden: Ein junger Ägypter, so scheint es, mit einem auffälligen Tattoo zwischen den Schulterblättern und bloßem Oberkörper, der schlangenhafte Beschwörungstänze ausführt. Er spielt eine ebenso große Rolle, obwohl auch er keine bestimmte Figur darzustellen scheint. Eine Gruppe von Tänzern umgibt die Torte: Lieben- Leiden- Handeln wird im Sprechchor aufgesagt. Die Parole, die auch in den nächsten Szenen und Bildern immer wieder aus dem klassischen Stücktext hervorbricht.
Der Weißgekleidete spricht mit Medea und verführt den Zuschauer dazu, ihm Figuren zuzuschreiben: einen Diener, einen Bürger Kreons oder einen Freund Medeas, der moralisch hoch steht und Medea bis zuletzt zur Umkehr bewegen will. Seine Kontaktaufnahme beschränkt sich jedoch nur auf Medea und kurz nach der blutigen Tat an Medeas Kindern tritt er auf die Bühne mit irrem Lachen und verworrenem Aussehen- man merkt: Medeas moralische Seite ist dem Wahnsinn verfallen. Ihr dämonisches und zugleich stummes Ich lenkt die Umstehenden immer wieder wie ein Puppenspieler: Wie Knethaken drehen sie sich um die eigene Achse: Der eine Arm angewinkelt, der andere ausgestreckt, der Magie Medeas ausgeliefert. In ihrer gleichförmigen Drehbewegung wirken sie auch wie Zahnräder. Oder aber sie kauern, der Rücken wabert wie weiches Wachs, dann bewegen sie sich über die Bühne, zuckend, als würden sie von unsichtbaren Dolchen getroffen. Sind die beiden Antigestalten also als ein Schulterengel und –teufel zu sehen?
Medeas Magie ist eine Ur- Weibliche, sie entstammt der Erde, vertreten durch die Titanin Tethys, die Medea um das ihr widerfahrene Unrecht beklagt. Medea kauert mit gespreizten Beinen, zwischen die ihr Oberkörper gesunken ist. Tiefe, dunkle Schreie, wie die einer Gebärenden, werden ausgestoßen, dann hebt Medea einen Tontopf hinter der Bühne hervor und über ihren Kopf- Spannung. Blut überläuft ihr Gesicht, ihr schwarzes, archaisches Gewand, fließt in ihren Ausschnitt und über die hölzernen Stufen der Argo.
Archaisch sind auch die Gewänder der anderen: Die bodenlangen Röcke sind aus groben Naturfasern gefertigt und erinnern an einen rituellen Kampfsport. Jasons Rock ist grün, sein Haar ist blond und zurückgebunden, einmal ist sein Oberkörper nackt, einmal mit einem weißen Tanktop bedeckt, einmal ist er Mann, einmal Frau. Seine sprachlose Erscheinung, ist tänzerisch, männlich, stark und anziehend, ganz der antike Held. Seine (ent-) sprechende Erscheinung ist giftig, weiblich, zänkisch. Ein Mann- Weib.
Medea ist dagegen die Löwin, die Barbarin: Das macht ihre schwarze, ungebändigte Lockenmähne deutlich. Wenn sie brüllt, dann hat das Wirkung. Atina Tabè spielt diese Rolle bis zur Perfektion. Medea ist zerrissen zwischen dem archaischen Brauchtum, dem sie entstammt, der Sitte, und auf der anderen Seite dem moralischen Denken, der Mütterlichkeit. Beide Seiten spielen miteinander und gegeneinander. Medea mordet nicht zum ersten Mal. Zuvor hat sie für Jason ihren Bruder und ihren Vater geopfert und – nicht zu vergessen – die Heimat. Auf der Flucht mit dem goldenen Vlies hat sie die zwei Töchter des Pelias durch eine List dazu gebracht, den eigenen Vater zu kochen, angeblich, um den Greis zu verjüngen. Wo Medea opfert, ist Jason raffgierig: Medea hat ihn schließlich auf seinem Diebeszug zum goldenen Vlies kennen gelernt. Und das Argument, mit dem er sich Medeas Ehebett entzieht, ist: Um die gegenwärtige Situation zu verbessern. Hier vermischt sich antike Tragödie mit alltagssprachlichen Phrasen: „Wir sind Flüchtlinge und die Ehe mit der Prinzessin ist mehr als zweckmäßig.“ Wie eine Dampfwalze überrollt Jason jegliche Moral, um seine Ziele zu erreichen. Medeas Kinder sind wie Mitbringsel in die Ehe. Zwei Söhne, zwei Statthalter hat sie Jason geschenkt, die sie ihm genauso gut auch wieder nehmen kann. Zwei Söhne sind ein doppelter Beweis für Jasons Männlichkeit. Was am Ende von ihm übrig bleibt, ist ein schreiendes, kauerndes Weib.
Das Gebären wird als grausamste Strafe der Natur für die weibliche Macht dargestellt: Medea beschreit das Unrecht dieser Konstellation. Lieber würde sie sich dreifach für eine Schlacht rüsten als einmal zu gebären. Doch das verbietet ihr die Gesellschaft: Medea überschreite ihre weiblichen Anlagen, indem sie sich ihrem Mann widersetze.
Soviel steht fest: Leben zu schenken fällt offenbar schwerer, als es zu nehmen. Als in allen Einzelheiten geschildert wird, wie grausam Kreon und seine Tochter, die Rivalin Medeas, zu Tode kommen, durchlebt Medea einen orgiastischen Rausch. Medeas Mütterlichkeit findet nur in direktem Blickkontakt zu ihren Kindern statt: „Wenn ich ihnen in ihre süßen Augen sehe, meine Kinder…“ Doch abrupt findet die Pflicht des alten Brauchtums zu ihr zurück: „Ehe mich meine Feinde verlachen, werde ich Jason bestrafen“. Die härteste Strafe, die Medea ersinnen kann, ist, ihn seiner Kinder zu berauben. „Halt ein, du triffst dich selbst!“ ruft der moralische Freund. Medea weiß darum, doch sie befiehlt ihrem Herzen, sich für einen Tag zu verhärten. Kopfüber gleitet sie die Stufen hinab, die Arme von sich gestreckt wie in einem Kreuzgestus, ihrer Entscheidung erliegend. Schon steht sie da, mit blutigen Händen, mit leerem Blick, auf der Torte, deren Planken nun an ein Schafott erinnern. Jason klagt sie an, doch er ist machtlos. Medea beruft sich auf ihr Recht und die Götter stehen ihr zur Seite, Helios Strahlen künden das Nahen seines Wagens an.
Das eigene Brautkleid ist vergiftet worden, um die Rivalin aus dem Weg zu schaffen, der Hochzeitskuchen nun blutüberströmt. Lieben, Leiden, Handeln- die Parole des Abends hat in diesem Bild zu ihrer Erfüllung gefunden.
Anna Greger