Die Welt als Wille und Vorstellung. So lautet der Titel des philosophischen Hauptwerkes Schopenhauers. Schon jener deutet implizit auf die Bedeutung der Kommunikation hin. Man macht sich die Welt Untertan, indem man sie in begreifbare Schemata zwingt – den Willen und die Vorstellung. Dazu braucht es jedoch die Sprache als Medium, erstens, als Schema für den Menschen, um zu begreifen; zweitens, um dies anderen kundzutun; und drittens, um auch das soziale Umfeld zu schematisieren. Darauf greift auch Hamann – anschließend an Aristoteles – zu, wenn er meint, ohne Wort gäbe es weder Vernunft noch Welt. Die Vernunft ist zunächst das, was uns vom instinkthandelnden Tier unterscheidet, die Reflexionsfähigkeit. Dies drückt sich in unserem verbalen Hauptkommunikationsmittel aus. Fraglich bleibt natürlich, ob uns dies zum politischen Wesen macht.
Der vorliegende Essay fokussiert dabei die poetische Sprache unter folgenden Fragestellungen: Was unterscheidet die poetische Sprache von anderen Sprachgattungen? Ist sie unverzichtbar? Wo liegen ihre Grenzen zu andern Gattungen und zur Erkenntnis allgemein? Welches Denken wohnt ihr inne? Wie nimmt sie die Welt wahr? Ist sie in ihrem An und Für Sich einzigartig?
So soll generell ermittelt werden, ob die Poesie notwendig ist, um die Welt zu verstehen, Vernunft zu vermitteln und die Welt bestehen zu lassen. Klar ist jetzt schon, dass die Poesie sich ihre ganz persönliche Welt nach ihrem Willen und ihrer Vorstellung entwerfen kann. Mit dem Terminus Poesie meine ich hier die weitgefasste Definition der Dichtung, die nur im engeren Sinne die Versdichtung meint. Dazu müssen wir zuerst die Unterteilung der Sprache beleuchten, um die Sonderrolle der Poesie auszumachen, um dann nähere Einzel- und Besonderheiten klar zu machen, in einer intensiven darauf fußenden Analyse.
Drei willkürliche Unterarten
Die Sprache habe ich grob in drei Unterarten geordnet:
1.) Die Alltagssprache: Jeder von uns kennt sie; die meisten von uns beherrschen sie problemlos. Besondere Charakteristika sind die leichte Verständlichkeit, und die gewöhnliche Tauglichkeit. In gewissen Subkulturen – wie manchen Jugendsprachen – bilden sich jedoch esoterische, chiffriert wirkende Alltagssprachen aus. Bei der Alltagssprache können sich auch leichter Landessprachen vermischen (Beispiel: Denglish, Runglish oder Spanglish).
2.) Die Wissenschaftssprache: Sie dient speziell wissenschaftlichen Zwecken und Kommunikationen. Sie teilen sich grob in Natur- und Technikwissenschaften sowie in Geistes- und Sozialwissenschaften auf. Sie überschneiden sich mit der Alltagssprache (mehr noch die Geisteswissenschaften), jedoch nicht der weiter unterteilten Gattung der Umgangssprache. Durch Fachbegriffe, Statistiken, Formeln etc. wird auch diese Sprache esoterisch.
3.) Die poetische Sprache: Auch sie überschneidet sich mit den beiden anderen Sprachtypen. Zwei Beispiele: Mit den Gedicht „Verlorenes Ich“ vereint Benn alle Sprachtypen in sich. Er verwendet physikalische Fachbegriffe wie „Gammastrahlen“, vermischt mit Alltagsbegriffen wie „Schaf“ und bezieht das auf einen philosophischen Diskurs (ebenso zwängt er das noch in Verse). Diese Technik halte ich für anziehend, dass ich die auch schon angewandt habe, indem ich in der Kurzgeschichte „Popologie“ (aus meiner Kurzgeschichtensammlung „Koitus mit der Meerjungfrau“) die Vergewaltigung von ein paar Ministranten durch einen Priester kalt und sachlich mit medizinisch-anatomisch korrekten Begriffen und Abläufen beschreibe und so die brutale und erregende Handlung verfremdend versachliche und abkühle, aber auch verrohe. Ergo ist die Poesie nicht nur eine Mischung der Sprachtypen, sondern führt diese darüber hinaus auf etwas Elementares zurück – mehr dazu gleich.
Diese Sprachunterteilungen – nennen wir sie willkürlich die „horizontale Unterteilung“ – werden jedoch erneut – nun „vertikal“ – unterteilt, durch verschiedene Landessprachen. Während eine solche Vermischung in der Alltagssprache Gang und Gäbe und auch bei der Wissenschaftssprache zumindest in Bezug auf das Fachvokabular mit manchen Sprachen wie Latein und Englisch normal ist, ist dies besonders in der Poesie ein ausschlaggebender und problematischer Punkt, da in manchen poetischen Sprachen Assoziationen und Konnotation bei einzelnen Begriffen mitschwingen, die gar nicht ausreichend autark übersetzt werden können. Dies wird bei den Spezifika im Folgenden noch belegt werden.
Die poetische Sprache ist unverzichtbar
Was ist also dieses „Über die anderen Sprachtypen hinaus“, das sich doch meist derselben Worte bedient, aber doch anderes, wenn nicht gar mehr bringen soll, in der Poesie? Im Ansatz beantworten es schon die Dichter, die sich weigern, ihre Werke zu erklären, da, wenn es anders besser auszudrücken wäre, sie es wohl auch anders geschrieben hätten. Zwar werden immer wieder Interpretationen einiger literarischer Werke geboten, doch diese können und dürfen nie für sich in Anspruch nehmen, die Texte gänzlich dechiffriert zu haben.
Da sind wir schon beim nächsten Problem: Viele poetische Werke sind schwer verständlich. Es misst sich nicht immer nur an der Intelligenz, ob jemand einen poetischen Text versteht und die Sprache ihm einleuchtet, sondern es liegt manchmal auch schlicht daran, ob man einen Draht, ja, eine Beziehung zu Sprache und Inhalt aufbauen kann, persönliche, subjektive Noten in seinem Verstehensprozess einbauen kann. Während man sonst durch Lernen Vokabular und Verständnis erweitern kann, muss das nicht zwingend in der Poesie helfen. Dadurch ist ihr Wirkungskreis zwar wesentlich kleiner als der der Alltagssprache, aber doch größer als der, der wissenschaftlichen Sprachtypen im Ganzen, da auch Nichtakademiker, Nichtintellektuelle und Nichtwissenschaftler sich die poetische Sprache erschießen können und manche Akademiker, Wissenschaftler und Intellektuelle nun wieder nicht.
Ist Poesie daher zutiefst subjektiv und nur für einen esoterischen Kreis geschrieben? Partiell. Zum einen gibt es Dichter, wie George, die der Meinung sind, nur eine kleine, geistige Elite sollte ihre anspruchsvollen Dichtungen lesen und sich erschließen. Es gibt aber auch Dichter, wie den großen Brecht, Shakespeare oder Schiller, die ihre Dichtungen dem Volk zugänglich machen wollten, um dieses zu bewegen und die Welt an der Basis zu erreichen. Hier herrscht also dichterische Heterogenität vor, ebenso wie bei der Frage nach der Subjektivität. Klar ist Poesie subjektiv. Dennoch verbergen sich oftmals hinter der Subjektivität objektive Fakten. Wenn sich die Poesie nicht an der Realität anlehnen würde, wären die Texte weder verständlich noch sinnvoll, da sie dann nichts zu bedeuten hätten, wobei selbst absurde, weltfremde Dichtungen in einer gewissen Weise die Welt beschreiben beziehungsweise karikieren, oder auch durch ihre Ablehnung allen Seins und der gewöhnlichen Sprache eine klare Stellungnahme abgeben und zur Sprache und Existenz eine negierende Position einnehmen. Viele Dichtungen zielen auch auf eine soziokulturelle allgemeine Verbesserung der Welt. Die poetische Dichtung hängt also trotz oder gerade wegen ihrer manchmal weltfremden Sprache mit der Welt mehr oder weniger direkt zusammen und beschreibt die menschliche Existenz. Je weltfremder die Sprache dabei wirkt, desto abstrakter ist oft der poetische Kontext.
Wegen dieser Abstraktion ist die poetische Sprache ergo unverzichtbar, da sie verschiedene Wahrnehmungen, Tatsachen und allgemeine oder individuelle Gefühle zusammenfasst und in einzigartiger Weise synthetisiert. Das perfekte Beispiel ist das Werk Kafkas: In seinen Parabeln lassen sich sowohl der schon ausgelutschte biographische Vater- Sohn- Komplex, der Sozialismus, das Judentum, die Diskriminierung, die politische, soziale und/oder private Unterdrückung hineininterpretieren, ohne dass eine der Interpretationen eindeutig als die Richtige definiert werden könnte. Die hohe Abstraktion ist ergo eine wichtige Inhärenz der Poesie. Selbst in klaren Handlungen einer Geschichte, kann implizit durch die Sprache ein abstrakter Grad erreicht werden, der philosophisch und sozialtheoretisch ein weiteres Spektrum beleuchtet. Ein selbsterfundenes Beispiel: Ein Roman mit der Durchschnittshandlung des Niederganges einer Ehe und der Scheidung, der zeigt, wie aus Liebe und Eifersucht grenzenloser Hass via Enttäuschung wird. Dadurch, dass die Sprache gewisse allgemeine Züge näher beleuchten kann, kann das Verhalten von Menschen in emotionalen Randsituationen generell aufgezeigt werden, mit zeitlosen allgemeingültigen Elementen, am besten noch durch einen abschließenden Aphorismus. So kann die poetische Sprache aus konkreten Ereignissen, allgemeine Schlüsse herausfiltern.
Verdichten
Abhilfe liefert hier schon der Terminus Dichtung selbst. Hier soll also eine Aussage sprachlich komprimiert werden. Etwas, was in anderen Sprachtypen viel mehr Platz und Zeit bräuchte und in den Sozialwissenschaften lange diskutiert und ausdifferenziert werden würde und müsste, wird hier eng zusammengefasst. Doch auch das reicht nicht weit über einen Mix mit den anderen Sprachtypen hinaus. Eine perfekte Zusammenfassung eines Inhaltes ließe sich also auch – eventuell mit poetischen Mitteln, wie manchmal im Genre des Essay oder der Glosse – von den Sprachtypen Wissenschaft und Alltag intertextuell erreichen. Doch in diesem Verdichten soll noch mehr deutlich werden: Dadurch, dass auch oft verschiedenes vermischt und das Ganze abstrahiert wird, werden viele verschiedene Assoziationen addiert; für manchen sind auch gar nicht alle Assoziationen in einem poetischen Text fassbar. Gerade dadurch kann auch Elementares dargelegt werden, auf hohem Niveau. Die unbewusste Ursprache der Menschheit ist die Poesie!
Dass Poesie manche Dinge besser explizieren kann, als andere Sprachtypen, belegt selbst die Poesie. Betrachten wir nur einmal die Dramen Hamlet und Der Sommernachtstraum von Shakespeare oder Nathan der Weise von Lessing. Bei Hamlet und dem Sommernachtstraum werden Theaterstücke im Theaterstück verwendet und oft stellen sie das Zentrum des ganzen Stückes dar. Mit einem Theaterstück glaubt Hamlet den Mord seines Vaters aufzudecken und den Täter zu entlarven. Alle Fabelwesen geben im Sommernachtstraum ihre Fähigkeiten komprimiert zum Besten. Und beim Nathan erklärt der gleichnamige Protagonist Saladin das Problem der Weltreligionen anhand einer Parabel im Theaterstück. Sogar der Ursprung der Parabel, eine der hundert Novellen von Boccaccios Dekameron, ist eine Dichtung in der Dichtung. Dieses Prinzip der Dichtung in der Dichtung finden wir auch bei Brechts Die Maßnahme und Goethes Faust I vor – oder bei Kafkas Roman Der Prozess, in dem die Parabel Vor dem Gesetz als die zentrale Stelle schon das Ende vorweg greift. Schon hier legitimiert sich die Poesie selbst, indem sie belegt, dass man zentrale Inhalte mit einer Dichtung selbst viel besser explizieren könne. Hätte Hamlet dem Onkel die Tat nur vorgeworfen, hätte dieser den Mord schlicht verneinen und Hamlet heimlich aus dem Weg räumen können. Durch ein Theaterstück erlebte er die Geschichte, wurde implizit angeklagt und verriet sich womöglich. Das Ziel wurde also mit der poetischen Phantasie eines Theaterstücks effektiver und ausdrucksstärker verwirklicht, als es mit der normalen Sprache möglich wäre. Denn nicht nur wurde so die Handlung unterhaltsam vorangetrieben, sondern auch die Sicht und Interpretation der Tat durch Hamlet und die Schauspielergruppe gezeigt und so eine neue Vorstellungswelt eröffnet.
Das Unterschwellige, das Implizieren macht die Poesie einzigartig. Es ist nicht so deutlich wie oft bei den anderen Sprachtypen, dadurch aber erstens interessanter, da es erst erschlossen werden muss und zweitens, eben tiefgründiger. Es ist also gerade in der Implikation doch wieder konkreter, da bei Hamlet im Theaterstück selbst gezeigt wird, was eigentlich passierte, da bei Brechts Maßnahme nicht nur berichtet, sondern vorgespielt wird, warum der Genosse sterben musste, um den Ablauf, die Gefühle, Implikationen und Nöte zu unterstreichen oder da bei Nathan mit der Parabel das zentrale Problem der Religionskonflikte erläutert wird und sich so zeigt, warum es keine Lösung gibt. Auch dies lief implizit ab, da, wenn die Frage direkt beantwortet worden wäre, Nathan schlimmere Folgen zu befürchten hätte. Das Implizite gilt auch für manche Fabeln, die für jeden verständlich öffentliche Missstände anprangert, aber doch nicht anklagbar, da es eine andere, fiktive Geschichte ist und theoretisch also auch anders interpretiert werden könnte. Der Dichter lügt, um die Wahrheit noch ostentativer zu zeigen!
Entertainment und Niveau
Entertainment ist eine der wichtigsten Unterschiede zu den anderen Sprachtypen. Die Wissenschaft soll nicht unterhalten, obgleich interessant sein. Die Alltagssprache soll zwar manchmal unterhaltsam sein – hier kreuzen sich beide Typen wieder –, aber meist bei der alltäglichen Bewältigung helfen, die eher wenig bespaßt. Die Poesie aber soll dies sein. Die bekanntesten Beispiele sind wieder Schiller, Shakespeare und Brecht: Sie versuchen Sachverhalte und Probleme zu erläutern, jedoch nicht mit einer trocken-deskriptiven Methode, sondern das Ganze ist inhaltlich in die Fiktion eingebettet, auch wenn historische Figuren, wie die Johanna von Orleans, Maria Stuart, englische Könige oder Hitler die Vorlage bieten. Diese Geschichte kann alleine schon interessant sein, jedoch wird diese trotzdem langweilig, wenn die sprachliche Darstellung nicht interessant und packend ist. Durch Unterhaltung soll hier eine Intention vermittelt werden. Dies geht mittels Poesie besser als mit einer anderen Gattung. Das gilt sowohl für das klassische Konzept des aristotelischen Dramas, als auch die aufklärerische Methode des epischen Theaters und dessen Weiterentwicklungen, die ein kritisches Hinterfragen der Handlung fordern. Dies wird nicht nur durch die Handlung, mit gewissen dramatischen Elementen realisiert, sondern auch durch befremdende Begriffe oder provokante Thesen, die man in einer wissenschaftlichen Arbeit gar nicht halten oder beweisen könnte. Zum kritischen Denken, zum aufklärerischen Denken, zum Denken der Vernunft tragen ergo besonders das epische Drama und andere (post-)moderne Literaturformen bei, nicht zuletzt durch ihre Sprache.
Denn auch bei Romanen findet man dieses Element der unterhaltenden Sprache mit der Vermittlung eines bedeutsamen Inhaltes – oft auch im alltagsähnlichen Plauderton, wie bei der realistischen Prosa, die jedoch bei Gelegenheit ihre Atmosphäre rasch ändert, oder durch ein paar unterschwellige Stilmittel den Alltagston zwar beibehält, aber doch poetisch wirkt. Als Beispiel dient hier der naturalistische Roman Nana von Zola. Im ersten Kapitel werden nur die Operngesellschaft und das Opernhaus geschildert – in eben diesem nett-banalen Plauderton. An entsprechender Stelle wird jedoch, wie en passant, auf die Decke verwiesen, die Risse trage. Dieser Nebensatz wird zur Allegorie der beschriebenen bürgerlich-adeligen Gesellschaft des späten neunzehnten Jahrhunderts, die unter der Fassade am Brechen sei, in ihrer Doppelmoral.
Das Gleiche gilt für die Lyrik, also die Poesie im engeren Sinne. Da hier besonders verdichtet wird, häufen sich die Stilmittel, die zwar oft nicht dauerhaft unterhaltend sind, aber doch interessant im unterhaltenden Sinne sowie einprägsam. Da hier besonders Gefühle kundgetan werden können, wird dieser Effekt multipliziert. Hier soll auch oft ein ästhetisches Empfinden für Anziehung und Brillanz sorgen. Mit einer mächtigen Portion Revolutionspathos klagt Goethe im Prometheus die Götter an und huldigt zugleich dem „Aufklärer“ Prometheus, der eigenes Denken lehrt. Als Emotionsbelege dienen natürlich auch alle romantischen Gedichte, aber auch barocke, wie die von Gryphius, die sowohl das Vanitas-Motiv beschreiben, als auch den Schrecken des (Dreißigjährigen) Krieges. Besonders aufklärerisch wirken natürlich wieder die Gedichte Brechts, die etwa die Dialektik loben und auf Veränderung der Gesellschaft hinauslaufen. Auch hier wirkt Poesie sogar speziell im aufklärerischen Motiv auf das Bestehen der Welt. Durch die dialektische Vernunft soll die Welt verbessert werden und sich so nicht selbst zerstören. Also gilt tatsächlich, dass ohne Sprache, es keine Vernunft und keine Welt gebe.
Das Weltgefühl
Das schon angesprochene Gefühl ist ein weiterer Sonderweg der Poesie: Die beschriebenen Sachverhalte werden nicht nur trocken verwissenschaftlicht, sondern durch eine persönliche Handlung mit Individuellem angefüllt. Durch die Sprache kann dieses gefühlvoll werden. Dies ist nicht nur im romantischen Sinne gemeint, sondern dient auch dem Aufrütteln, der Vernunft, der Beherrschung der Welt. Dies ist ein weiteres Element der klassischen Katharsis. Die allegorische Äußerung von Gefühlen ist eine bedeutende Art der Beschreibung, da beispielsweise vor 1914 die Poeten der beginnenden Moderne den Zeitgeist viel passender in kurzen Sätzen erfassten und analysierten, als andere sprachliche Äußerungen dies konnten. Manche von ihnen hatten fälschlicherweise zu erkennen geglaubt, dass dieser Krieg nach einem langen Anstauen nun wie ein reinigendes Gewitter kommen musste. Auch wenn dies für uns heute natürlich eine befremdende Aussage ist, so treffen solche Allegorien doch den damaligen Zeitgeist optimal. Hier wurden also nicht nur historische, soziale, kulturelle und politische Fakten verarbeitet, sondern ein dazugehöriges, individuelles Weltgefühl.
Dadurch ist die Poesie auch als historische Quelle einzigartig in ihrer Form, einer Mischung aus Fakten, Umständen, Gefühlen und Wertungen in komprimierten Aussagen. Gleiches gilt für die Wahrnehmungen der modernen Autoren mit dem Anwachsen der Großstädte und dem pulsierendem Leben, allen voran Heym. Bis die Wissenschaft zu diesem Zeitgeist etwas beitragen, ihn beschreiben konnte, hatten die Poeten (und höchstens noch einige nichtwissenschaftliche Philosophen) diesen intuitiv, ästhetisch und allegorisch bereits erfasst. Dadurch ist der Wirkungskreis um einiges größer als der der Wissenschaft oder des Alltags, da Poesie alles umfassen kann – in einem! Da Gefühle und Intuition hier – vermischt mit Fakten – eine gewichtige Rolle spielen – etwas, was in der Wissenschaft aus gutem Grund gar keine Rolle spielen darf – kann ergo die poetische Sprache einen weiteren Kreis in ihrem Denken spannen, der niveauvoller und prägnanter ist als die Alltagssprache. Gleichzeitig kann die Poesie auch tiefer gehen, zu den Grundbedürfnissen der Menschen, ohne etwas belegen zu müssen.
Außer jener Lyrik dient hier und für alles andere das Werk der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller als Beispiel. Hier wird eine allgemeine Geschichte der Diktatur entworfen, jedoch mit den eigenen Wahrnehmungen, die oft verzerren und scheinbar Nebensächliches hervorheben. Dadurch wird viel Gefühl und Energie in die Handlung gebracht, viel Individuelles und wesentlich Aufrüttelnderes als bei bloßer realistischer Deskription. Die Sprache unterstreicht den Schrecken also auf ergreifende Weise. Durch teilparabolische Elemente wird die Handlung unterdrückter Menschen in der Diktatur erweitert auf die Probleme der Menschheit. Es wird der Schrecken einer jeden Diktatur beleuchtet, nicht nur die rumänische, deutsche oder sowjetische. Nicht nur das Geschriebene, auch das Nichtgeschriebene rüttelt hier auf, das, was nicht mehr gesagt werden kann.
Metaphern jenseits der Poesie
Dürfen solche Stilmittel also nur von der poetischen Sprache verwendet werden? Natürlich nicht. Viele Stilmittel haben sich in vereinfachter Art in die anderen beiden Sprachgattungen schon lange eingeschlichen – besonders die Metapher. Wir benutzen sie schon vermehrt im Alltag, wenn wir vom Stuhlbein, oder dem Fuß des Berges reden. Wir benutzen sie schon in der Wissenschaft, wenn wir etwa das Gleichgewicht des Schreckens, die Entfesselung des Krieges oder die der Märkte nennen. Solche Begriffe werden aber nicht nur in den Geisteswissenschaften benutzt, sondern auch im Hybridwesen der Politikersprache: Diese will mehr oder weniger wissenschaftliche Fakten verpacken und zu ihren Gunsten vor dem Volk möglichst gefällig, alltäglich und vereinfacht darlegen, oft auch mit rhetorischen Stilmitteln, die sich vor allem im Populismus häufen – es vereinen sich also dort im Grunde alle drei Sprachtypen. Was macht also die Poesie in ihren sprachlichen Methoden so besonders, die so spezielle Wirkungen hat? Die Besonderheit ist hier eben der bewusste, vermehrte und verdichtete Gebrauch der Mittel, wodurch andere Gedanken beim Menschen frei werden.
Daraus lässt sich folgern, dass das allegorische Motiv, das entscheidende in der Poesie ist, das ansatzweise über die Poesie hinaus geht, in die Alltagssprache, die Wissenschaftssprache und der Rhetorik der Politiker und ihrer Logographen. Fakten, Tatsachen und Wahrnehmungen werden durch eine Handlung und durch spezielle Formulierungen veranschaulicht, verbildlicht, was sonst nur dargelegt werden würde. Durch diese Bildform wird die Poesie nicht nur interessanter, manchmal sogar – auch in ihrer Abstraktion – plastischer als pure Beschreibungen. De facto kann die Poesie auch ganz andere Kreise erreichen, alleine schon diejenigen, die nach einer gewissen Ästhetik suchen.
Wie schon angesprochen, ist ein spezifisches Problem der poetischen Sprache, dass sie zuweilen nur schwer übersetzt werden kann. Durch ihre vielen Assoziationen und Abstraktionen kann sie weder komplett und endgültig mit anderen Worten interpretiert werden, noch in eine andere Sprache problemlos transferiert werden, weswegen oft eher schlechte als rechte Übersetzungen zustande kommen, auch bei guter Übersetzerleistung. Am schwersten ist dies bei der engeren Poesie im Versmaß, die besonders verdichtet ist. Hier müssten der Inhalt, das Versmaß, das eventuelle Reimschema und alle dabei frei werdenden Assoziationen passend übersetzt werden, mit dem selben Empfinden an Ästhetik, was kaum möglich ist, da man das gar nicht immer endgültig entschlüsseln kann.
Das Unbeschreibbare beschreiben
Ein kleines Prosabeispiel: Am Ende der Erzählung Dante und der Hummer von Beckett steht im Englischen der Satz „It is not“, als ernüchternde Antwort des Erzählers auf die letzten Hoffnungen des Protagonisten, seine Tante möchte den für ihn überraschender Weise noch lebenden Hummer nicht lebendig kochen, da er schon zuvor so leiden musste und Gott werde dem Tier und überhaupt jedem das Paradies bereiten. Meiner Meinung nach hat Tophoven eine kongeniale Übersetzung des Satzes abgeliefert, mit der Ellipse „Eben nicht“. Inhaltlich hat es im Grunde dieselbe ernüchternde, resignative Botschaft, in derselben prägnanten Kürze dargelegt. Mir selbst fiele keine bessere Alternative ein. Dennoch kommen nicht alle Schwingungen perfekt heraus. Der komplett ernüchterte und trockene Ton des „It is not“ kann nicht erreicht werden, die deutsche Übersetzung klingt dagegen bestimmter, belehrender. Da auch die Inhalte weniger leicht und konkret fassbar sind, ist es auch die Übersetzung, so dass es schon bei einem so kurzen und simplen Satz zu Komplikationen kommen kann, die kaum bis gar nicht überbrückbar sind.
So stellt sich natürlich die Frage, wie solch eine Sprache die Vernunft garantieren soll, wenn sie nicht einmal mit Vernunft gänzlich fassbar ist. In jedem Fall ist die poetische Sprache die anspruchsvollste Sprache. Es ist schwer, das Unbeschreibbare zu beschreiben! Von daher kann auch dieser poetologische Essay nicht für sich in Anspruch nehmen, die Spezifika der poetischen Sprachen, ihre Möglichkeiten und Grenzen sowie ihre politische, soziokulturelle und philosophische Rolle gänzlich zu beschreiben. Das liegt auch an der verschwommen Wahrnehmung der Poesie. Ein paar Denkanstöße können wir dennoch resümieren:
Die poetische Sprache geht weiter und tiefer als die anderen Sprachtypen des Alltags und der Wissenschaft, indem sie einige Methoden der anderen Sprachtypen transferiert, synthetisiert sowie komprimiert und benutzt zusätzlich – als Spezifikum – vermehrt allegorische Stilmittel. Sie ist auch abstrakter, allgemeiner, assoziativer und ergo in ihrem Sein freier. So kann die Poesie weiter gehen als alle anderen Spracharten, da sie die Synthese von Kunst und Sprache ist. Freilich kann sie dabei oft nicht so abstrahieren und verschwimmen wie etwa die Musik, als andere Kunst- und Sprachform, jedoch tut dies ihrer Qualität keinen Abbruch, da so ein menschliches Thema besser erläutert werden kann, mit dem der Mensch etwas mehr anfangen kann, als mit manchen Tönen. Während die Wissenschaftssprache etwa rein der Vernunft dient, dem gesichertem Verstehen und Beherrschen der Welt und dies im sprachlichen explizieren und kommunizieren tut, stellt die Poesie nicht nur diese Sachverhalte da, appelliert nicht nur an die Vernunft, sondern erreicht etwa durch Innigkeit und Intuition, Emotion und Entertainment den Leser, Zuhörer oder Zuschauer.
Unverzichtbarer Bestandteil der Vernunft
Doch hier stoßen wir auch schon an die verschwommenen Grenzen der eindeutig einzigartigen poetischen Sprache. Durch die verschiedenen Assoziationen, die mit wachsender Abstraktion sich vermehren, sinkt die Vernunft auch in einem gewissen Grad. Es liegt nahe, dass man allzu abstrakte Texte sich so zurecht-interpretiert, wie es einem gefällt. Das ist unvernünftig. Zu einer vollkommenen Vernunft, wie sie die Wissenschaft mit ihrer Sprache erstrebt, fehlen etwa Objektivität und intersubjektive Nachvollziehbarkeit. Diese können nicht – und oft sollen sie das auch gar nicht – vollends bei persönlichen Texten mit dem subjektiven poetischen Stil eines Autors garantiert werden, wie oben erläutert, bei den Interpretations- und Übersetzungsmöglichkeiten von poetischen Texten. So geht mindestens ein Teil der Vernunft oft verloren.
Also können wir festhalten, dass generell für die Vernunft – dafür, dass wir unsere Welt verstehen, beherrschen und vernünftig mit allem Irdischen umgehen, damit die Welt weiter existieren kann – die Wissenschaftssprache geeigneter ist, diese zu verwirklichen und zu garantieren, um in der Kommunikation, wofür die Sprache sich am ehesten eignet, die Vernunft zu erkennen und zu verbreiten. Damit meine ich eine Vernunft, die im Sinne Adornos Moral und Ethik nicht ausschließt. Ein Vorteil der poetischen Sprache bleibt aber – auch wenn sie auf diesem Feld hinter der wissenschaftlichen Sprache stehen muss –, dass sie den Menschen eher dort erreicht, wo er steht, in seinen Befürchtungen, Gefühlen, Bedürfnissen, diese auch beschreibt und ihnen hilft, so zu vernünftigen Schlüssen zu kommen, auf einer philosophischeren Ebene. Die poetische Sprache erreicht den Menschen an der Basis eher durch ihr über die anderen Sprachtypen Hinweggehen, Ästhetisieren, Verdichten und zugleich zum Kern des Menschseins zu gelangen, was sich die Wissenschaft in ihrer objektiven Sprache gar nicht erlauben darf oder will und die reine Alltagssprache mit ihren einfachen Mitteln nicht kann. Wie schon abgespielt, kann die Poesie keine wissenschaftlich nachweisbare Wahrheit verkünden. Denn im Grunde beschreibt sie meist keine nachweisbare Wahrheit und wenn doch, so werden Lücken oft poetisch geschlossen.
Durch diese Erkenntnis, können wir jedoch auch festhalten, dass diese Sprachtypen, noch mehr als sie sich überschneiden, voneinander abhängen und ohne den einen, der andere die Vernunft verlieren würde – ohne einen der drei Haupttypen wäre die Welt in ihrem Sein tatsächlich gefährdet, alleine schon, weil die anderen nicht auf sie verzichten könnten.
Philip J. Dingeldey