„Guten Morgen, vergewaltigtes Warschau“

Cover zu Morphin von Tzczepan Twardoch (Quelle: Rowohlt Verlag).

Cover zu Morphin von Tzczepan Twardoch (Quelle: Rowohlt Verlag).

So gut wie alle literarischen Werke laufen im Resultat mehr oder weniger explizit auf einen spezifischen Topos hinaus: Der Frage nach der eigenen Identität. Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch hat in seinem neuen Roman Morphin diese Frage klar und deutlich aufgenommen und in ihren verschiedensten Facetten beleuchtet, anhand eines abgehalfterten halb polnisch, halb deutschen Antihelden im von den Deutschen besetzten Warschau von 1939.

Der Ich-Erzähler, Leutnant Konstanty Willemann, ein nach Morphin und Sex gierender Dandy und beobachtet, wie die Deutschen die Stadt einnehmen, jede Freiheit unterdrücken, wie – so heißt es mehrmals in dem Buch – das „vergewaltigte Warschau“ ein bedrückender Schatten seiner selbst ist, angefüllt mit deutschen Nazis, stillen Polen, Opportunisten und (leider dümmlichen) Freiheitskämpfern. Konstanty hat zwar eine Ehefrau Helena, deren polnisch-nationalistischer Vater ihn hasst, und einen Sohn, zieht aber lieber mit der jüdischen Edelprostituierten Salomé umher, die ihn mit Morphin versorgt. Dann ist da auch noch Iga, eine Widerständlerin, mit der Konstanty freilich eine Affäre hatte und die er aus der Haft befreien muss – und damit die Eifersucht seines deprimierten Freundes Jacek, Igas Mann, auf sich zieht. Schließlich jedoch schließt sich der Protagonist dem heimlichen Widerstand an und erhält einen deutschen Pass wegen der vorzüglichen Beziehungen seiner opportunistischen Mutter, zu der er ein krankhaftes, teils ödipales Verhältnis pflegt. Mit der undurchschaubaren und unnahbaren Adeligen Dzidzia nach Budapest reisen muss, wegen eines ebenso undurchschaubaren Plans.

Das Buch – untergliedert in zwei Teile und vierzehn längere Kapitel – ist sehr tiefgründig und detailliert geschrieben. Twardoch scheut sich nicht, dreckige, eklige und grausame Begebenheiten zu schildern du trifft damit den Kern des vergewaltigten Warschaus: Es ist die Rede von brutalen Schlägereien, dunklen Phantasien, Räuschen, Sex, tödliche Gefechte, Faschismus und Konspiration. Ebenso ist Morphin enorm fiebrig, oft abgehackt, elliptisch und expressionistisch verfasst, was am Anfang gewöhnungsbedürftig ist, aber nach kurzer Zeit einem die stilistische Brillanz von Twardoch vor Augen führt. Die fiebrige und oft resignierte Art des Romans drückt sich etwa fast aphoristisch in folgenden Zeilen aus: „Schluss. Es klingelt nicht mehr. Du hast gehorsam den Wecker gestellt, denn in diesem Gehorsam suchst du Trost, Würde und Menschlichkeit, aber Menschlichkeit gibt es nicht.“

Fiebrige Schizophrenie

Auch wird so die schizophrene Ader, die Konstanty hat, besser demonstriert: Dieser nämlich weißt selbst nicht, wer er ist. Zwar agiert er als großer Macho, aber fühlt sich ganz erbärmlich, fühlt sich nicht polnisch, aber erst recht nicht deutsch, kennt keine Zugehörigkeiten und hat, aufgrund der kaputten Beziehung zu seiner Mutter, mit Frauen ein Problem und leidet selbst psychisch unter den (wirklich für jeden Mann) erschreckenden Kriegsleiden des Vaters. Ebenso kennt er zwar seine Präferenzen und Abneigungen, aber kann seinen Charakter – auch auf mehrmalige Nachfrage Dzidzias, was einen großen Teil des Buches ausmacht – nicht adäquat beschreiben. Dieser Gespaltenheit drückt sich darin aus, das mal Konstanty seine Handlungen roh und abgehackt beschreibt, oft zynisch, ergriffen oder auch skrupellos, oft aber auch eine weitere unsichtbare Persönlichkeit seines Selbst – die fähig ist, Konstanty zu lieben – zu ihm spricht und in der zweiten Person Singular erzählt. Immer wieder sind Kurzbiographien andere Protagonisten und Antagonisten eingebaut, die in die Zukunft ausgreifen, zuweilen auch recht mysteriös, die von Konstantys zweiter, fast allwissender Person geschildert werden.

Insgesamt handelt es sich um einen langen, aber spannenden Roman, der alles hat, was ein gutes Buch braucht: Sex, Drogen und Gewalt, Hass, Krieg und Politik, Unterdrückung, Freiheitskampf und Opportunismus, die Suche nach der Identität, untermauert von steter Fiebrigkeit. Einzig bemängeln könnte man, dass das Ende, obgleich psychisch und stilistisch brillant, recht vorhersehbar ist. Obwohl der Schluss relativ endgültig ist, wird jedoch die Die Hauptthematik, die Suche nach der Identität, in einer von (häufig nationalistischen) Identitäten dominierten Welt, nicht beantwortet und Leser wird erfreulicherweise unbefriedigt zurückgelassen.

Szczepan Twardoch: Morphin, übersetzt von Olaf Kühl, Rowohlt Verlag, Berlin 2014. Gebunden, 590 Seiten, 22,90 Euro. Weitere Infos unter: http://www.rowohlt.de/buch/Szczepan_Twardoch_Morphin.3096746.html.

Philip J. Dingeldey

 

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