„Wie aus gleichgültiger Masse gleichwertige Personen erscheinen“

Thomas Bode: Europa geht

Thomas Bode: Europa geht

PASSANTEN stehen im Fokus der gleichnamigen Ausstellung in der Zentrifuge Auf AEG. Die Idee dazu kam vom Offenbacher Designer Thomas Bode, der seine Überlegungen zum Thema „Menschen in Bewegung“ in der Bilderfolge Europa geht sichtbar machte. Der Grundgedanke hierbei war für ihn, den Einzelnen aus einer anonymen Masse hervorzuheben, sichtbar zu machen und ihm somit Bedeutung zuzuschreiben.

Bode fotografierte die Protagonisten seiner Bilder in drei europäischen Städten – Frankfurt, Barcelona, Amsterdam – und legte deren Profile per FineArt-Print auf Transparentpapier frei. Die Bilderreihe fokussiert jeweils eine Person großformatig, im Hintergrund sind ein oder zwei weitere Fußgänger mit verblassenden Konturen gezeichnet. Unter dieser Szene sind stark verkleinert weitere Gehende gleich einem Tapetenmuster als anonyme Masse dargestellt: Bode stempelt dieses „Fußvolk“ mit einem Kreis über Köpfe und Oberkörper und macht sie somit unkenntlich. Diese Abstufung wirkt, als würde der flüchtige Blick des Betrachters umherschweifen, einen Menschen fokussieren und wahrnehmen, dann aber wieder unscharf werden und weiterwandern. In einer Variation des Themas verdeckt Bode die Personen nicht länger mit den Kreisen, sondern rahmt deren Häupter mit diesen und erzeugt damit die Optik einer Aura oder eines Heiligenscheins: seine Würdigung des Individuums. Die Figuren wirken wie Icons und die Personen scheinen somit Ikonen ihrer selbst zu sein. Und sie wirken auch ganz bei sich selbst, indem sie gehend abgebildet werden. Das Gehen sieht Bode hier als Prozess der Besinnung, als ein „Warten in Bewegung“.

Ein weiterer Beitrag zur Ausstellung stammt von dem Filmemacher Marvin Entholt. Seine fotografischen Arbeiten entstanden während seiner Reisen und Aufenthalte an verschiedenen Orten: Berlin, Lissabon, Venedig, New York. Die großformatigen Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen Momentaufnahmen, Entholts individuellen Blick auf Alltagsszenen – im Vorübergehen und Verweilen. Die dargestellten Szenen hält Entholt auf der Straße oder in Hinterhöfen fest. Er zeigt den Blick eines Passanten, der flaniert, sich treiben lässt und dabei wie zufällig die Atmosphäre verschiedener Orte und Plätze wahrnimmt. Eine besonders ausdrucksvolle Fotografie greift die Sichtweise des Beobachters auf, indem sie die Silhouette eines alten Mannes zeigt, der Kindern beim Spielen zuschaut: „Tempo vola“ (Die Zeit wird knapp) – der Titel verbreitet eine wehmütige Stimmung. Eine andere Aufnahme zeigt die Zufälligkeit und Individualität des Blickes: der Rezipient muss in einer belebten Straßenszene erst einmal nach dem Paar („Couple“) suchen, das dem Werk seinen Namen verleiht.

Marvin Entholt

Marvin Entholt

Neben Bodes Drucken und Entholts Fotografien sind Werke des Künstlers Rolf Otto Siegel zu sehen, im Fokus die Bilderserie „Privat Screening“. Seine Kohlezeichnungen stellen stark abstrahierte Antlitze dar. Die Gesichter besitzen weder Augen noch Nase oder Mund, lediglich die Frisur wird jeweils stark schematisiert dargestellt. Bei dieser Annäherung durch Abstraktion liegt die Intention nahe, dass auch Siegel das Spannungsfeld zwischen dem einzelnen Individuum und der amorphen Masse hervorheben will: Einerseits wirken die Porträts anonymisiert und „wie von der Stange“. Dieser Eindruck wird durch die Wahl das Mediums – aneinandergereihte, geknickte Papierblätter ohne Rahmung oder sonstige Alleinstellungsmerkmale – noch unterstrichen. Andererseits macht Siegel die Personen, die sich im Alltag in einer amorphen Masse verlieren, trotz (oder gerade wegen) ihrer Schematisierung unterscheidbar: Jeder Einzelne unter den Vielen ist es ihm wert, porträtiert und auf eine Ausstellungswand „emporgehoben“ zu werden.

Der Bezug des sich bewegenden Individuums zum ihn umgebenden Raum wird im Kontext der Ausstellungsbeiträge nicht thematisiert. Möglicherweise sparten die Künstler diese Dimension absichtlich aus, weil die Gehenden „bei sich selbst“, das Gehen als „Warten in Bewegung“ gezeigt werden sollen. Der Fokus richtet sich auf die Innenwelt der Protagonisten. Diese „Sicht nach innen“ greift beispielsweise auch Michel de Certeau in seiner „Kunst des Handelns“ zum Gehen in der Stadt auf: Gehen bedeutet, den Ort zu verfehlen. Es ist der unendliche Prozeß, abwesend zu sein und nach einem Eigenen zu suchen.“ [Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns: Gehen in der Stadt, S.278] De Certeau schafft aber darüber hinaus auch Assoziationen zur urbanen Umwelt als „Sicht nach außen“ und liefert damit eine ergänzende Perspektive. Jeder Einzelne eignet sich ihm zufolge den städtischen Raum durch ganz persönliche und individuelle Entscheidungsprozesse an. Und unterscheidet sich somit auch durch den Akt des Gehens selbst von der Masse.

Mein Resümee: Diese Ausstellung bietet interessante Ansätze zum Alltagsphänomen des Gehens und der Anonymität urbaner Öffentlichkeit. Was oft kennzeichnend für moderne Kunst ist, trifft auch hier zu: Wichtig für ein tiefergehendes Verständnis sind die Hintergrundinformationen. Steht man vor den ausgestellten Werken ohne jede Kontextualisierung, ist man an mancher Stelle etwas ratlos und „verpasst“ interessante Details. Die notwendigen Erklärungsansätze und Intentionen liefern die Veranstalter und Künstler sowohl medial als auch persönlich.

Die Ausstellung ist noch bis zum 16. März geöffnet und wird mit einer Finissage abgeschlossen. Diese bietet für Interessierte die Gelegenheit, Fragen an die anwesenden Künstler zu stellen. Marvin Entholt, der nicht nur Filmemacher und Fotograf, sondern auch Buchautor ist, wird zudem aus seinem neuen Krimi lesen.

Informationen unter http://www.passanten-zentrifuge.de/

Reguläre Öffnungszeiten: Do./Fr. 17-20 Uhr, Sa. 15-18 Uhr; Eintritt frei

Finissage: So., 16. März, 14-18 Uhr; Krimi-Lesung: ca. 16 Uhr

Eva Poll

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