Farbenfrohe Melancholie

Cover von Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki (Quelle: Dumont Verlag).

Cover von Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki (Quelle: Dumont Verlag).

In Japan erschien das Buch in einer Erstauflage von einer Millionen Exemplare, verkaufte sich aber kurz nach dem Erscheinen gar zwei Millionen Mal, denn es ist ein typischer Roman von Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki, der im Januar auch im Dumont Verlag erschien.

Tsukuru Tazaki ist Teil einer Clique von fünf Freunden, die alle eine Farbe im Namen tragen. Nur Tsukuru fällt aus dem Rahmen und empfindet sich in jeder Hinsicht als farblos, denn er scheint keine besonderen Eigenheiten oder Vorlieben, ausgenommen sein Interesse für Bahnhöfe. Als er nach der Oberschule die gemeinsame Heimatstadt Nagoya verlässt, um in Tokio zu studieren, tut dies der Freundschaft zunächst keinen Abbruch, bis zu jenem Sommertag, an dem Tsukuru in den Ferien nach Nagoya zurückkehrt – und herausfindet, dass seine Freunde ihn plötzlich und unerklärlicherweise schneiden. Erfolglos versucht er immer wieder, sie zu erreichen, bis er schließlich einen Anruf erhält: Tsukuru solle sich in Zukunft von ihnen fernhalten, lautet die Botschaft, er wisse schon, warum. Verzweifelt kehrt er nach Tokio zurück, wo er ein halbes Jahr am Rande des Suizids verbringt. Jahre später offenbart sich der inzwischen 36-jährige Tsukuru seiner neuen Freundin Sara, die nicht glauben kann, dass er nie versucht hat, der Geschichte auf den Grund zu gehen. Von ihr ermutigt, macht Tsukuru sich auf, um die mysteriöse Vergangenheit aufzuklären.

Der neue Murakmi hat alles, was ein Roman braucht: Es geht um Freundschaft, Liebe, (bisexuelle) Erotik, Geheimnisse, unterschwellige Gewalt, Musik, Lügen, Scheinwelten und die Frage nach der eignen Identität in einer nichtindividuellen Welt, wie es für diesen einzigartigen japanischen Schriftsteller Usus ist. Damit erzählt er erneut mit ähnlichen Methoden wie sonst eigentlich die gleiche Geschichte, die er schon so oft erzählte, jedoch ohne, dass es kitschig oder den Leser langweilen würde – obgleich es sich bei diesem Werk um ein eher kurzes Interludium zu handeln scheint, etwa im Vergleich zu anderen großen Romanen, wie seinen Mamutwerken 1Q84 oder Kafka am Strand.

Das Leben als Mysterium

Auf den ersten Blick scheint die Handlung ziemlich simpel zu sein, partiell wirkt sie auch gekünstelt; jedoch verbirgt sich dahinter noch mehr: Über Rückblicke im inneren oder äußeren Monolog erfahren wir immer wieder nichtchronologische Details aus Tsukurus Leben, die zeigen, dass er dennoch alles andere als farblos und langweilig ist. Einer der Clous dabei ist, dass sich Fakt und Fiktion nicht immer klar separieren lassen.

So lässt sich manchmal nicht unterscheiden, welchen seiner erotischen, chiffrierten Träume nicht doch Realität sind – und wenn nicht in dieser Welt dann vielleicht in einem Paralleluniversum, in das er versehentlich geschlupft ist. Freilich wird dies nie expliziert, ist aber denkbar, in Anbetracht von Murakamis Œuvre und seiner literarischen Präferenzen. Beispielsweise wurde ihm von seinen Freunden der Vorwurf der Vergewaltigung ihrer Freundin Shiro gemacht, was sie beim Wiedersehen revidieren. Bald ist sich Tsukuru aber nicht mehr sicher, ob er unbewusst in einer anderen Welt nicht doch der Vergewaltiger war und ob nicht doch er sie als gebrochene Persönlichkeit später tötete. Und auch die Rolle der Sara und ihrer Treue ist alles andere als klar. Sogar das Leben als Ganzes wird zu einem Mysterium, als er von einem Studienfreund seltsame Geschichten über einen Mann hört, der Auren und den Zeitpunkt seines Todes sieht. Und immer wieder seltsame Gedanken über sechs-Finger-Hände. Alles bleibt ein herrliches Arkanum, voll für wilde Spekulationen, sodass man unendlich über den Roman debattieren könnte.

Die Kombination von westlicher Musik und östlicher Literatur

Haruki Murakami (Quelle: Wikimedia Commons/ wakarimasita).

Haruki Murakami (Quelle: Wikimedia Commons/ wakarimasita).

Und über all dem schwebt immer das Stück Le mal du pays aus Franz Liszts Klavierzyklus Années de pélerinage, voll von (grundloser?) Traurigkeit und Melancholie sowie hier der Erinnerungen an die (wahnsinnige?) Schulfreundin Shiro, die das Stück mit Begeisterung spielte – einen Zyklus, den man eigentlich als Soundtrack des Buches stets mit anhören müsste. Murakami gelingt wie immer die interkünstlerische Vereinigung von westlicher Musik und östlicher Literatur – nicht zu Unrecht gilt er schon länger als Anwärter auf den Literaturnobelpreis.

Das Buch stellt mehr Fragen als es beantwortet und ist auch gerade deswegen besonders empfehlenswert. Und wie immer wurden die japanische Sprache und die kulturellen Anspielungen authentisch übersetzt von Ursula Gräfe, sodass das Ganze leicht und flüssig zu lesen ist, jedoch seine mysteriöse Metaphorik behält. Für mich persönlich steht das Buch etwas hinter den letzten Romanen und Erzählungen von Murakami zurück – was heißt, dass es sich bei Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki lediglich um ein Meisterwerk handelt.

Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki, übersetzt von Ursula Gräfe, Dumont Verlag, Köln 2014. 318 Seiten, gebunden, 22,99 Euro. Weitere Informationen unter: http://www.dumont-buchverlag.de/buch/Haruki_Murakami_Die_Pilgerjahre_des_farblosen_Herrn_Tazaki/13343

Philip J. Dingeldey

 

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