Anlässlich der Aufnahme der Tragödie Ein Volksfeind (Norwegisch: En Folkefiende) von Henrik Ibsen in die aktuelle Spielzeit des Stadttheaters Fürth, gingen wir einmal der Frage nach, was überhaupt ein Volksfeind sei, wie man ihn politisch und sozial klassifizieren und dies literarisch und dramaturgisch verarbeiten kann. Ein politisch-literarischer Versuch.
Es gibt zwei Arten von Volksfeinden: Einen tatsächlichen und einen scheinbaren. Der Tatsächliche wird meist erst im Nachhinein entlarvt – wenn überhaupt – und selten als solcher angegriffen. Der Scheinbare wird im öffentlichen Diskurs diffamiert, bekämpft und politisch verfolgt.
Der scheinbare Volksfeind lässt sich erneut in zwei Gattungen unterteilen: In den politischen Agitator und in die Mitglieder von diversen Minoritäten. Der scheinbare Volksfeind als politischer Agitator ist oft ein solcher, der etwas tut, was der biedere Common Sense oder die herrschenden Parts in Politik und Gesellschaft als Angriff auf das Kollektiv und den Wertkonservatismus interpretieren – seine Intention verläuft jedoch meist zwischen einer Besserung und einer radikalrevolutionären Änderung der politischen und sozialen Zustände und Systematiken. Sobald er aber als Volksfeind deklariert und tituliert wird, ist sein Ziel dahin, da er als sogenannter Verräter im Inneren der Gesellschaft nichts mehr verbessern kann – im Gegenteil, sein Wirken wird eher die bemängelten Zustände zementieren.
Der scheinbare Volksfeind: Ein Staatsfeind und Verräter?
Ein reales, politisches Beispiel eines scheinbaren, politisch aktiven Volksfeindes ist Edward Snowden: Er hat zwar die internationale Spionage der USA per NSA in einem Akt von lebensgefährlicher und mutiger Zivilcourage offen gelegt und damit den Respekt zahlreicher Europäer gewonnen – die politischen Institutionen der USA sehen ihn aber als Vaterlandsverräter, da er top-secret Geheimdienstscheiß von nationalem Interesse publiziert hat. Dies verbreiten sie in der ganzen Welt und sind innerhalb der USA damit sogar erfolgreich. Ein Held, verunglimpft als Volksfeind! Die Spionageaffäre ist zwar publik geworden, aber durch seine Stilisierung zum Staatsfeind, wird sein illegales – aber moralisch exemplarisches – Verhalten auch als illegitim dargestellt und die globale Überwachung kann weitgehend ungehindert weiter gehen. Denn es gibt zwar politische Empörung – auch in sehr moderater Weise durch die deutsche Bundesregierung -, aber die USA lehnen es strikt ab, die Überwachung de facto wirklich einzugrenzen oder gar zu beenden. Das hehre Ziel, die Überwachung abzuschaffen, ist misslungen.
In einem Fall wie Edward Snowden fällt meist eher die Vokabel Staatsfeind. Von der Terminologie her, kann man dies synonym mit dem Begriff Volksfeind verwenden. Denn ein Staat, der sich – wie die USA – als Demokratie suggeriert, fußt vor allem auf dem Volk, sprich, das Volk solle der Staat sein und institutionell in ihn eingebunden werden. Von daher kann ein Staatsfeind auch als Volksfeind fungieren, auch da idealiter die Volksinteressen identisch mit den Staatsinteressen seien. Ähnliches gilt auch für Staatsfeinde in Diktaturen, die sich als Demokratie postulieren – wie einst die UdSSR – oder auf das Volk als ideologische Basis bauen, etwa totalitäre Systeme – wie der Nationalsozialismus oder der Stalinismus. Immer wenn in diesen politischen Systemarten ein Dissident oder ein Aufwiegler als Verräter oder Staatsfeind gilt, gilt er auch fälschlicherweise als Volksfeind.
Ein literarisches Beispiel ist der Protagonist Dr. Thomas Stockmann, der Badearzt aus Ibsens Ein Volksfeind, der sich gegen die Mehrheit der Gemeinde, die industrielle Wasserverseuchung in seinem Badeort und damit später gegen den aufgehetzten liberal-konservativen Kurort stellt, der gerne seinen Ruf und sein Geld wahren möchte. Aus korrekten Gründen der Gesundheit und des Umweltschutzes, nimmt er eine ebenfalls couragierte Kontraposition ein, wieder gegen die herrschenden Cliquen – bestehend aus lokalen Politikern (personifiziert durch seinen Bruder Peter Stockmann), den Medien (personifiziert durch den Herausgeber Aslaksen) und dem regionalem Industriekapital (personifiziert durch Thomas Stockmanns Schwiegervater Morton Kiil). Auch Dr. Stockmann wird als Feind der Gemeinde dargestellt, obwohl er zunächst nur reale, gesundheitsgefährdende Missstände aufdeckt und sich erst gegen die liberale Mehrheitsgesellschaft als Ganzes positioniert, als diese ihn diabolisiert.
Whistleblower, Gedankenverbrecher und Minoritäten
Ein weiteres literarisches Beispiel für den scheinbaren, politisch aber minder aktiven Volksfeind ist der Charakter Wilson Smith aus George Orwells Roman 1984, der vor allem in der NSA-Affäre von Feuilletonisten meist zu Recht rezipiert wurde. Wilson entschließt mit Julia zusammen, dem Großen Bruder zu entsagen, ohne freilich oppositionell aktiv zu werden – es handelt sich schlicht um ein Gedankenverbrechen und unerlaubten Koitus; sie sind also nicht einmal aktive Staatsfeinde oder Whistleblower, die man aus oppositioneller Sicht als Volkshelden deklarieren könnte. Er entlarvt nur mit Julia im Stillen einige Verbrechen des totalitären Überwachungsstaates und gilt dennoch als Feind des Staates und des Englischen Sozialismus´. Die Konsequenz ist eine Gedankenmanipulation und Folter, bis Wilson und Julia einander entsagen und ex animo ihre Liebe zum Großen Bruder und damit dem vermeintlich schützenden Unrechtsstaat bekennen, der ihre Existenz zernichtet.
Ein anderes Beispiel, das aber politisch und poetisch in seiner Doppelmoral und Härte misslungen ist, wäre noch das Lehrstück Die Maßnahme vom großen Bertolt Brecht. Darin belegen einige Revolutionäre einem Genossen, warum sein von Mitleid und Nächstenliebe geprägtes individuelles Verhalten schädlich für Revolution und Gesellschaft sei, da politisches Agieren, vor allem in Zeiten des Umsturzes, nur mit Gewalt im Kollektiv der vermeintlich kaum fehlbaren Partei ablaufen könne. Die Folge ist die Hinrichtung des empathischen Genossen. Hier wurde er sogar unfreiwillig – er sah sich als durchaus konform und sozialrevolutionär – zum Volksfeind, da er es gewagt hatte, autark zu handeln. Kein Wunder, dass diese vollkommen misslungene Botschaft des Stückes sowohl im damit als herzlos und brutal entlarvten Sowjetsystem als auch bei jeglichen Kritikern des Sozialismus´ harsch kritisiert wurde – Brecht hätte damit selbst zum scheinbaren Volksfeind in der DDR werden können.

US-Präsident Barack Obama, ein nicht sehr friedlicher Friedensnobelpreisträger (Quelle: Wikimedia Commons/ Magnus Manske).
Dem aufdeckenden, oppositionellen scheinbaren Volksfeind wird ergo für gewöhnlich der Schaden zugeschrieben, den das mehr oder weniger intendierte Publizieren oder Offenlegen verursacht; dabei sind die Täter doch die, die sich beschweren, da sie menschenrechtswidrig oder dumm agieren und jetzt die Konsequenzen tragen sollen.
Ein scheinbarer Volksfeind kann natürlich nicht nur ein aktiver oder passiver Oppositioneller sein, sondern – wie anfangs erwähnt – auch ein nichtpolitisch Handelnder, aus einer Minorität. Ein literarisches Beispiel wäre die Inszenierung des Antisemitismus im Drama Andorra von Max Frisch, in dem der mutmaßliche Jude Andri eine Klimax an rassischen Diskriminierungen durchlaufen muss bis zum Tode, ohne dass er etwas Falsches oder Oppositionelles tat oder Jude gewesen wäre. Neben den ethnischen, rassischen und kulturellen Minoritäten, kann es auch die sozialen geben, die gerne zum Volksfeind stilisiert werden, nur weil sie in der Unterzahl sind. So wie etwa die Wirtschaftskrise der 1930er unkorrekt einem vermeintlichen internationalen Finanzjudentum zugeschrieben wurde, gilt heute oft das Prekariat als sozialer Sündenbock und ökonomischer Volksfeind, da es dem Sozialstaat zu viel Geld koste, was natürlich ausgerechnet von Teilen der Oberschicht und des maßlosen Neoliberalismus – der die Finanzkrise erst verursachte – moniert wurde. So beleidigte ja einst Guido Westerwelle den Hartz-IV-Empfänger als spätrömisch-dekadent, während ein Teil der FDP-Klientel in Saus und Braus die Wirtschaft ruinierte. So zeigt auch das Privatfernsehen im Reality-TV täglich wie lebensuntauglich und asozial Hartz-IV-Empfänger seien, indem sie falsche Stereotypen reproduzieren und damit einen Volksfeind, da asozial und parasitär, künstlich generieren und amüsieren sich dabei zu Tode (wie die sozioökonomische und -kulturelle Unterschicht zum Volksfeinden und Sündenbock der Gesellschaft stilisiert wird, wird literarisch unter anderem in meiner Kurgeschichtensammlung „Koitus mit der Meerjungfrau“, aber auch zunehmend von einigen Sozialkritikern verarbeitet). Ein solcher scheinbarer sozialer oder kultureller Volksfeind, der natürlich keiner ist, kann als Bauernopfer der wahren Volksfeinde fungieren, die so von eigener Schuld ablenken, oder aus ideologischer Verblendung entstehen.
Der echte Volksfeind: politische Egoisten?
Streng vom scheinbaren Volksfeind als Oppositioneller oder Teil der Minorität zu separieren ist nämlich der echte Volksfeind. Er ist der, der tatsächlich aus Egoismus und –zentrik gegen das Volk vorgeht. Damit sein Wirken der Majorität des Volkes schaden kann, muss sein Einfluss sehr groß sein, sprich, er ist meist unter den Reichen und Mächtigen zu suchen. Diese Konnexion ist zwar ein Trend, aber keinesfalls obligatorisch und schon gleich gar nicht ist jeder Wohlhabende oder Politiker automatisch ein Volksfeind. Es kann sich dabei um verschiedene Arten von feindlichen Akteuren handeln: um jemandem, der in einer Gesellschaft, die sozioökonomisch extrem auseinanderklafft in maßloser Dekadenz lebt, anstatt partiell die soziale Lage zu verbessern; um Konzerne, die aus Profitgier unsere Umwelt zernichten; um das organisierte Verbrechen, a la Mafia; um Politiker, die im Namen des Volkes Kriege erklären, foltern, korrupt sind oder keine Basisdemokratie wollen, weil der Bürger zu dumm sei, vielmehr die Demokratie marktkonform sein müsse. All dies sind Volksfeinde, da sie dem Volk nachhaltig schaden. Da diese Akteure jedoch einen gewissen Einfluss haben, werden sie nur selten oder nicht in Gänze als Volksfeind entlarvt oder zur Verantwortung gezogen. Ein konkretes politisches Beispiel: Der US-Präsident erwies sich durch seinen Einsatz von Drohnen und der globalen Überwachung (trotz Friedensnobelpreis) sogar als Feind des Weltvolkes, dessen universelle Menschenrechte und -würde er ignorierte und negierte, im Namen der nationalen Sekurität im War on Terror. Aber nicht er wird verhetzt, sondern Snowden, der keinen dieser Menschenrechtsverstöße beging, sondern sie nur entlarvte.
Literarisch können wir zu Ibsens Volksfeind zurückkehren, in dem die faktischen Volksfeinde auch die sind, die im Namen des Volkes Dr. Stockmann kritisieren und anprangern, da die lokalen wirtschaftlichen Interessen durch die Wahrheit gefährdet sind. Selbst die Meinung der von der Demagogie und finanziellen Befürchtungen manipulierten Majorität kann die Wahrheit nicht per Dekret abschaffen, beweist uns das Drama! Wenn aus dem Rousseau´schen Gemeinwillen des Volkes ein vom faktischen Volksfeind verunglimpfter Gesamtwille wird, so kann das Volk schnell einen oppositionellen Volkshelden als Volksfeind sehen.
Bert Brechts Volksfeinde
Weitere literarische Beispiele des faktischen Volksfeindes finden wir erneut bei Brecht: In seinem Drama Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui wird der Aufstieg Hitlers beleuchtet und wie er sich, um die Macht zu ergattern und totalitär zu sichern, Gruppen als Volksfeinde deklariert, die entweder oppositionell sind (in unserem Sinne wieder Volkshelden) oder wieder rassische Minderheiten sind. Der wahre Feind ist damit natürlich Arturo Ui, der demagogisch sowie populistisch die Macht von nationalkonservativen Kräften erhält und dann dem Volk als Diktator nachhaltig schadet und es unterdrückt sowie ausdünnt. Wie bei Frischs Andorra wird ein rassischer, nur scheinbarer Volksfeind künstlich generiert, um die Volksfeindschaft der Herrschenden zu sichern, ohne dass der scheinbare Volksfeind ein Dissident wäre. Dies deckt Brecht auch in Die Rundköpfe und die Spitzköpfe auf, dessen Quintessenz, wie die eines Gros seiner Lyrik, belegen will, dass keine vermeintlichen Rassen Feinde seien, sondern dass der faktische Volksfeind der Nationalismus und der ausbeutende Kapitalismus seien.
Auch anwenden lässt sich Brechts Drama Das Leben des Galilei, das wieder etwas Ibsens Stück ähnelt. Galileo Galilei deckt – in Anschluss an Kopernikus – Wahrheiten über das Sonnensystem auf und bringt das theozentrische Weltbild ins Wanken, mit seinen physikalischen Erkenntnissen. Papst Urban VIII, selbst ein Mathematiker, sieht diese Tatsachen ein, will sie aber, zwecks Machterhalts, verunglimpfen und bekämpfen. Galilei gilt als Feind, wird diktatorisch zensiert, obwohl er nur die wissenschaftliche Wahrheit belegt. Der faktische Volksfeind ist die lügende katholische Kirche, nicht Galilei. Dieses Stück zeigte dabei nicht nur diese verdrehten Verhältnisse und die Verantwortung der Wissenschaft im Angesicht der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki, sondern wurde später auch als implizite, aber zum Himmel schreiende Kritik an der autoritär-repressiven DDR erkannt, etwa in ihrer Aufführung im Berliner Ensemble, unter Brechts Regie.
Halten wir also fest: Die zwei Arten von Volksfeinden sind Antagonisten, die diametral auseinanderlaufen. Der echte Volksfeind genießt meist Macht und Geld und handelt aus Egoismus, sprich, um Macht und Geld zu erhalten und zu mehren, zum Schaden des Volkes. Deckt dies der scheinbare Volksfeind mutig auf – ob er es nun als Whistleblower in die Welt schreit oder nur im kleinen Kreis wie Winston Smith -, diffamiert der echte Volksfeind ihn erst und will die Wahrheit vertuschen oder er sucht sich aus einer Minderheit ein Bauernopfer als anderen scheinbaren Volksfeind. Vielleicht ist es an der Zeit, diesen perversen und perfiden Chiasmus umzudrehen und der Wahrheit, den Menschenrechten und der Zivilcourage ihren legitimen Platz einzuräumen.
Philip J. Dingeldey