Der Autor Maxim Biller schrieb einmal im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einen Aufsatz namens Ichzeit. Über die Epoche, in der wir schreiben. Darin wollte er belegen, dass sich im vergangenen Vierteljahrhundert in der Literatur eine bestimmte Art des Schreibens herausgebildet habe. Diese Epoche nennt Biller Ichzeit. Zusammengefasst bedeutet dies ungefähr das Folgende:
Die erfolgreichen Romane der jüngsten Vergangenheit seien in der ersten Person Singular verfasst. Sie würden dabei jedoch nicht nur einfach in dieser Weise erzählen – der Erzähler mimt sich also nicht allwissend und allmächtig -, sondern sie würden ihre eigenen Erlebnisse krass und über den Grenzen des Gesunden gehend erzählen. Das Ich-Individuum gerate in den Vordergrund – zu Ungunsten der Ideologien, der Postmoderne und den Erzählweisen, wie sie etwa die Gruppe 47 vertritt. Dadurch gebären Autoren sich nicht mehr als auktoriale Tyrannen, sondern mit ihren ganzen Körper und ihrer ganzen Seele für die selbst gefühlte oder erfahrene Geschichte. Er folgert daraus:
Die Literatur braucht wieder ein starkes , glaubhaftes, mitreißendes, suggestives Erzähler-Ich, das stärkste, das es je gab – sonst hört ihr uns, die tief empfindenden Dichter, im immer lauter werdenden Medienlärm nicht mehr.
Flapsig formuliert er, durch diese Grenzwertigkeit in unserer medienumlärmten, globalisierten und beschleunigten Welt, dürfe der Literat auch keine Geschichten aus der pathetischen Distanz schildern, wie es der Realismus tat, sondern müsse etwa statt Balzac eher wie Britney Spears wirken, die gerade im Absturz sich medienwirksam die Haare schert. Es geht um Charaktere, deren Existenzen entweder grenzwertig oder schon gescheitert sind, die Entfremdung immer spürbar und die Extremitäten unserer beschleunigten und vernetzten Zeit. Ich würde es den intensiv gespürten Abgefuckt-Faktor nennen! Biller führt zahlreiche Beispiele an – von Rainold Goetz´ Irre, über Christian Krachts 1979, zu Helene Hegemanns Axolotl Roadkill.
Maxim Billers Ichzeit
Natürlich ist Billers Artikel sehr emotional und etwas einseitig. So verwirft er etwa die Gruppe 47 als nutzlos und kommt zu der Auffassung, dass man sich bald an Jonathan Franzen nicht mehr erinnern werde, weil er eben nicht in der Ichzeit schreibe, obwohl heute noch sein Roman Freiheit als epochal gilt, der zeitgeistlich die USA regelrecht einatmet, ob man seinen Pathos nun akzeptabel oder überstilisiert und überbordend findet. Billers Hypothese ist diesbezüglich natürlich höchst unwahrscheinlich. Außer der Ichzeit gibt es noch viele weitere Literaturarten, wie den Familienroman, der wieder Aufwind erfährt oder postmoderne Erzählformen, von denen ich die Meinung habe, dass auch sie ihren Platz in der Literatur verdient haben, mehr jedenfalls als medial-kapitalistische Effekthascherei. Unsere literarische Epoche ist nämlich viel zu heterogen, um sie auf so eine einfache Formel zu bringen, besonders da die Ichzeit nicht auf die Lyrik zutrifft und in der Dramatik dagegen schon lange zuvor teils einen Einzug gefunden hat. Eine evolutionäre Überlegenheit der Ichzeit in unserer Welt ist unwahrscheinlich, trotz dem Potenzial der Ichgeschichten. Dadurch ist es schwer bis unmöglich, unsere heterogene Epoche, die man ergo kaum oder gar nicht charakterisieren, ja, kaum als intellektuelle Epoche titulieren könnte, auf einen so simplifizierenden Begriff wie Ichzeit zu komprimieren, es sei denn, es würde allein diese Ichzeit überleben und die anderen Gattungen untergehen, wie es Biller teils hoch utopisch (oder de facto doch dystopisch?) prognostiziert.
Nichtsdestotrotz wollen wir annehmen, dass Biller in seinem Aufsatz ein gutes, wenn auch wenig ausgefeiltes Modell respektive Konzept entworfen hat. Nehmen wir also dieses eigentlich zu vereinfachende Modell und stellen als richtig dar, dass es in den letzten 25 Jahren tatsächlich viele Romane der beschriebenen Art gab, die öfter eine hohe Qualität und viel Potenzial – neben anderen Gattungen – haben. Das ist hier für mein Konzept der Essayzeit die notwendige Prämisse, der wohl viele Leser auch zustimmen. Mit diesem Vorwissen, können wir ein erweitertes Konzept entwerfen.
Das Modell der Essayzeit, das ich hier entwerfen möchte, kann eher für sich in Anspruch nehmen, generell auf unsere Epoche zu passen; jedoch ist natürlich auch das nicht allgemeingültig, da in unserer Epoche – wie beschrieben – keine komplette Gleichsetzung oder Vereinfachung möglich ist. Ich behaupte nicht, dass dieses Konzept evolutionär oder revolutionär überlegen sei und deswegen die anderen Gattungen überleben würde, wie es Biller für die Ichzeit postuliert. Ich behaupte auch nicht, dass andere Gattungen nun keine Daseinsberechtigungen mehr hätten, da die Essayzeit viel besser sei. Nein, ich behaupte nur, dass die Essayzeit in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat, dies im Kontext zur skizzierten Ichzeit stehe und dieses Konzept viel Potenzial besitzt.
Die Essayzeit in der Literatur
Doch was ist nun diese ominöse Essayzeit? Ich meine damit etwas sehr einfaches, prinzipiell Simples: In dieser Zeit erscheinen in der Literatur immer mehr Verschmelzungen mit der Gattung des Essays. Die fiktive Story eines Romans, einer Erzählung, Novelle, Kurzgeschichte oder dergleichen wird vermischt mit dieser Art der geisteswissenschaftlich-literarischen Abhandlung.
Diese Definition ist natürlich sehr schwammig. Das ist jedoch, wenn es um den Essay geht, unvermeidbar. Denn die Gattung des Essays selbst entzieht sich einer eindeutigen Definition. Dadurch ist er wohl die freiste, intertextuelle Form des Schreibens. Meist handelt es sich um einen sachlichen, nonfiktionalen Text, der jedoch in der Art des Vorgehens und der Beschreibung eine Mischform zwischen sachlicher Abhandlung und literarischem Werk darstellt. Er kann subjektiv sein, muss es aber nicht. Er kann auch Persönliches beinhalten, muss aber nicht. Bei aller Subjektivität sollte der Inhalt aber nachvollziehbar sein. Er darf fiktive Erzählformen annehmen, zum Beschreiben des Realen. Trotz möglicher Sachlichkeit, vielleicht sogar Wissenschaftlichkeit, muss er nicht wissenschaftlich belegen. Nichts muss, aber fast alles darf, wie im Swinger-Club. Klar ist nur, dass er die Dinge in ihrer Allgemeinheit und Übersicht darstellen soll und dementsprechend keinen Anspruch auf Vollständigkeit beansprucht, geschweige denn Themen erschöpfend bearbeitet. Die Länge ist nicht fixiert: Es gibt einseitige Essays, bis zu solchen von ungefähr 300 Seiten. Diese äußerst freie, literarische, aber nonfiktionale Darstellungsform kann eine Herausforderung für den Autor darstellen, wird deswegen gerne gewählt und gilt als eine Art schriftstellerische Königdisziplin. Einigen wir uns also schlicht auf die hier oben genannten Charakteristika und besonders eine Mixtur aus Fakt und Fiktion.
Durch diese enorme Freiheit und mögliche literarische Qualität, bietet sich der Essay als geistige Abhandlung auch für die fiktionale Literatur, wie für den Roman und die Erzählung etc. an – und das ist es, worauf wir hier hinaus wollen.
Zwischen Philosophie, Sozialkritik und Literatur
Genau dieses entscheidende Charakteristikum führt zu jener Affinität zwischen Essay und rein fiktionaler Literatur. Oft war ein Autor, noch zu sog. ideologischen Zeiten, also vor der sog. Ichzeit, geneigt, seine Meinung und Intention anzuspielen oder deutlich auszusprechen, indem er einen Protagonisten oder auch einen auktorialen Erzähler einen kleinen Essay in Form eines Monologs halten ließ. Dies finden wir in äußerer Monologform auch im Drama, besonders im progressiven Block, etwa bei Schiller, Brecht, Toller, Bernhard und vielen anderen. Das hat aber eben nichts mit der Ichzeit zu tun. Diese Art der Meinungsäußerung – dass ein kurzer essayistischer Abschnitt von höchstens zwei bis drei Seiten oder wenigen Vortragsminuten in der fiktiven Geschichte stattfindet, zu Philosophie oder Gesellschaft, die die konkrete fiktive Handlung, auf ein abstraktes und reales Niveau hebt – ist etwas alltägliches. Hier bietet sich die Sachtextart des Essays am besten an, wegen seiner Mischform zwischen Literatur und Wissenschaft. Gefördert wurde dieser Trend noch durch die personale Verschmelzung von Philosophie und Dichtung. Denn Personen wie Badiou, Sartre, Camus, Beauvoir, Rousseau, Schiller etc. waren/sind beides: Philosophen und Dichter. Dadurch war es naheliegend, dass diese Hybriden erstens schon eine Affinität für die Mischform Essay, als auch für den Einbau essayistischer Elemente in die fiktive Dichtung haben. Jedoch wird der essayistische Abschnitt – auch zur Reflexion, der den Fortgang der Handlung kurz zum Stehen bringt – eingeschoben und wird klar von der eigentlichen Handlung abgegrenzt. Das also war Gang und Gäbe seit der Existenz der fiktionalen Literatur und stellt allein aber kaum etwas Erwähnenswertes dar.
Die Ichzeit – als ein erfolgreicher Teil unserer Epoche – bot und bietet das Potenzial, diese alte Mischung zu verstärken, auszubreiten und zu synthetisieren – zu geradezu essayistischen Erzählformen der fiktionalen Literatur. Denn wenn das Individuum in der ersten Person Singular in den Vordergrund tritt, so treten wir beim Lesen voll und ganz in diesen Charakter ein, atmen seine Luft, leben und fühlen sein Leben, saugen das Mark seiner Existenz in uns auf – ohne die alte Distanz zu wahren, die noch der moderne Roman aufgebaut hat, aber mit der ewigen Entfremdung. Die fehlende Distanz und dass der Autor eben mit seinem Leben, seiner Existenz für den Ich-Erzähler bürgt, bewirken, dass man auch einen konkreten und echten Eindruck in die Gedanken und Gefühle des Erzählers und auch des Autors erhält, tiefer als früher, da die Intensität gesteigert werden soll. Das kann auch dazu führen, dass der Erzähler sich ewig in Gedanken verstrickt, die über die konkrete Handlung abstrakteres Niveau erreichen. Diese Beschreibung kann nun ausarten, in viel längere Essays als zuvor, da sich im Gedanken oft Essays entwickeln, deren Niveau mit dem Intellekt des Charakters steigt. Dies ist in den postmodern-unsicheren (entideologisierten?) Zeiten freilich eher dialektisch oder unsicher philosophierend und abwägend, wie der Essay und weniger rein kommentierend. Auch da eher der Essay hier benutzt wird, statt dem bloßen Kommentar zum aktuellen Geschehen, steigt die literarische Qualität der Geschichte. Wir erhalten sinnvoll einen tieferen Einblick, wie der Ich-Erzähler die reale Welt interpretiert – wenn möglich so auf kunstvolle Art und Weise. Diese Mischung bietet nur der Essay!
Auffällig erscheint in dieser Essayzeit nicht nur exzessive Gebrauch essayistischer Mittel in einen fiktionalen literarischen Text, sondern vielmehr die Synthese mit der fiktiven Handlung. Das heißt also, der Leser kann letztendlich nicht mehr klar unterscheiden, was nun der fiktive Fortgang ist und was reiner Essay. Denn wenn man nur die Schilderung und Wahrnehmung des extremen Ichs vermittelt bekommt, ist diese Unterscheidung zuweilen schwer bis unmöglich; besonders wenn Protagonist, Erzähler und Autor verschmelzen, überrascht die Verschmelzung von Dichtung und Essayistik nicht mehr.
Essayromane
So finden wir schon im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts Essaygeschichten. So schrieb etwa Bernward Vesper, der ehemalige Lebensgefährte der späteren RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, mit dem Buch Die Reise einen sog. Romanessay. Dieser von den ´68ern geprägte Text, zeigt gut die Synthese von Roman und Essay im Individuum, das Geschehen und Charaktere reflektiert. Auch der ZEIT-Feuilletonist Adam Soboczinsky schrieb mit Glänzende Zeiten eben einen Roman, der nach eigenen Angaben nur fast ein Roman ist, da der Ich-Erzähler ewig essayistische innere Monologe hält, die direkt seine alltägliche Umgebung beschreiben und interpretieren. Auch hier geht es um Randexistenzen unserer Gegenwart. So wird hier etwa lange über das Rauchverbot im inneren Monolog diskutiert. Hier zeigen sich aber keine Intentionen des Autors, der etwa gegen das Rauchverbot oder dergleichen ist, sondern nur die Überlegungen des Erzählers, der auch unschlüssig hin und her laviert. Er versucht zu einem Schluss zu kommen, aber ein Essay ist eben nicht mehr, als ein Versuch, wie der Name schon sagt. Auch ich selbst habe schon in der kürzeren Prosaform versucht die Essayzeit anzuwenden.
In meiner Kurzgeschichte Das Wattezeitalter (aus meiner Prosasammlung Koitus mit der Meerjungfrau) beschreibt eine junge Frau am Bahnhof zunächst nur die trostlose, graue und winterliche Umgebung, bis sie sich auf ein dickes Mädchen fixiert und sozialkritisch und kulturpessimistisch im inneren Monolog einen Essay entwickelt zum Schlankheitswahn a´ la Size Zero. Obwohl sie einiges zu analysieren scheint, wird jedoch klar, dass sie sich selbst nicht davon retten kann, selbst in den Strudel geraten ist und auch Gedanken im Entwicklungsstadium wieder verwirft, da sie nicht darüber nachdenken will. Die Erzählung ist also die meiste Zeit ein verworrener, auch teils unstrukturierter Essay – so wie Gedanken eben oft sind -, eingebettet in die Rahmenhandlung der Wartenden und Beobachtenden am Bahnhof. Auch hier wird die Unterscheidung zwischen Dichtung und Essay schwer. Die eigentliche Handlung umschließt zwar ganz klar das eindeutig essayistische Zentrum um den Schlankheitswahn; aber diese eigentliche Handlung ist ebenso vermischt mit nachdenklichen, zynischen und essayistischen Bemerkungen zum Geschehen. Und auch im Theater, wo episch-essayistische Elemente schon seit dem großen Bertolt Brecht einzogen, erhält einen neuen Push mit Elfriede Jellineks Dramenessay Rheingold.
Rückblickend lässt sich über die Essayzeit bilanzieren, dass sie die schon lange vorhandene Eingliederung des Essays in die fiktionale Literatur, mit der Ichzeit nahezu proportional zunimmt, zu richtigen Romanessays etc. So wird der Charakter des Ich-Erzählers – der radikal dargelegt wird, über viele Grenzen hinweg – durch seinen eigenen Essay dargelegt. Der Essay bietet sich durch seine Mischform und nonfiktionale, aber literarische Freiheit geradezu an. Dabei ist das nicht einfach nur eine Eingliederung dessen in die Dichtung, sondern eine Synthese, die eine Unterscheidung kaum bis unmöglich macht.
Dier förderliche Verbindung von Ichzeit und Essayzeit
Jedoch ist die Verbindung von Essay- und Ichzeit nicht obligatorisch, aber förderlich. Die Essayzeit muss dabei auch nicht zwangsweise ideologisiert oder entideologisiert sein, kann sich sogar dieser Unterteilung und Terminologie entziehen. Es würde sich auch anbieten, dass der Charakter des Ich-Erzählers, die Intensität und die Grenzerfahrungen schon hinter sich hat und zynisch und resigniert, innerlich schon den lebenden Zustand verlassen hat, aber nicht seelentot ist. Ein solcher Charakter wäre ein Resultat aus der krassen, sozialkalten Ichzeit. Es gibt nicht mehr viel zu fühlen, der Charakter würde vielleicht sogar an Genauigkeit verlieren und schwammiger werden, wie ein Schatten seiner selbst. Ein solcher schon abgebauter Charakter der Ichzeit – hier wäre also unklar, ob das noch zur Ichzeit oder eine Folge dessen zu rechnen ist – könnte viel trockener, aber auch bösartiger und enttäuschter einen inneren Essay innerhalb der Erzählung halten. Da der Charakter schon eher schemenhaft ist, würde dies den Essay in der Erzählung noch zentraler erscheinen lassen.
Die Essayzeit wächst mit der Ichzeit, ist aber nicht an diese gebunden – sie existierte abgemildert schon zuvor, zieht auch abgemildert in die anderen aktuellen Erzählungsformen ein – und kann auch nach der Ichzeit, wenn der Charakter schon abgebaut ist, noch existieren, zuungunsten des Protagonistencharakters, vielleicht dadurch noch stärker und intensiver. Dadurch hoffe ich, dass der Begriff Essayzeit – als intensiveren Gebrauch der Essayistik in der fiktionalen Literatur – noch besser die aktuelle Literatur erfasst, als der vielversprechende Begriff der Ichzeit.
Philip J. Dingeldey