‘Auf Wiedersehen, Mr. Grey‘. Ich drehe mich um, ein wenig überrascht, dass ich nicht stolpere, und haste in Richtung Tiefgarage. (Shades of Grey S. 59) E. L. James reproduziert in ihrem hinlänglich bekannten Roman den Idealtypus der unmündigen Frau, das Bild einer Frau, die in Horrorfilmen in den Wald rennt und über am Boden liegende Äste stolpert. Den Sorgen und Nöten der verklemmten Anastasia Steele muss nun jedoch keine Beachtung mehr geschenkt werden. Neue Shades of Grey gibt es diesmal vom anderen Geschlecht: Die lebende Pornolegende Sasha Grey legt ihren Romanerstling vor.
Alles, was Sie von jetzt an sehen und hören, muss unter uns bleiben, gibt sie ihren Lesern als Lektüreanweisung mit (S. 5). Wir sollten dennoch darüber sprechen.
Die junge Filmstudentin Catherine lernt in einer Vorlesung Anna kennen. Die entführt sie in eine Welt real gewordener perverser Fantasien. Als Anna schließlich verschwindet, landet Catherine schicksalhaft in einer Sexhölle und fällt dem Politiker Robert „Bob“ DeVille in die Hände, in dessen Kampagnenbüro ihr Freund Jack arbeitet. Catherine entkommt der Sadomaso-Zeremonie und entschließt sich, wieder ein normales Leben zu führen und in Rücksicht auf Jack nichts von ihren Erfahrungen zu erzählen. Um diese doch überschaubare Geschichte zu erzählen, hätte man sicher keinen Roman schreiben müssen.
Allerdings ist Catherine eine Tratschtante und gibt dem Leser allerlei randständige Informationen mit auf den Weg, etwa seitenlange Reflexionen über das Verhalten von Filmfiguren aus Citizen Kane, Vertigo, etc. nur um am Ende eine Erkenntnis wie Genau so fühlte ich mich auch gerade zu produzieren. Eine weitere Erkenntnis, die Catherine aus der Filmgeschichte ableitet: Die Handlung dient den Figuren (u.a. S. 16, 54, 312). Schade, dass Grey das ihrer Erzählerin nicht so deutlich eingeschärft hat. Jedenfalls wäre es vermessen zu behaupten, dass die Handlung irgendeinen Einfluss auf die Figur hätte. Nein, alles prallt an Catherine ab, sie ist davor eine Nymphomanin, die sich hinter einer moralischen Fassade versteckt und dahin kehrt sie am Ende zurück:
Ich mache Sachen wie letzte Nacht. Und ich kann mir noch so sehr einreden, dass das etwas anderes war. Dass es sogar ehrenhaft von mir war, weil ich nur ehrlich zu mir selbst war, ehrlich mit meinen Fantasien umgegangen bin. Aber die Tatsache ist die: Ich habe meinen Freund betrogen. Den Mann, den ich liebe, den ich heiraten und mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen will. Ich habe ihn nicht mit dem Kopf betrogen. Ich habe ihn mit meinem Körper betrogen. Und es hat sich gut angefühlt.
Scheiß drauf. Man lebt nur einmal. Ich kann mit den Konsequenzen meines Handelns umgehen. (S. 210)
Ups. Aber gut, mit den Konsequenzen leben, das kann Catherine in der Tat sehr gut, denn ihr Freund Jack wird letztlich niemals etwas davon erfahren. Mit ausbleibenden Konsequenzen umzugehen, ist keine große Sache. Aber die nachdenklichen Momente sind ohnehin nur von kurzer Dauer, so heißt es als ihr Freund nach einem sexuellen Debakel auf Abstand geht: Ich weine mich in den Schlaf und als ich aufwache, ist Jack bereits fort. Und die Wohnung fühlt sich so leer an ohne ihn. (S. 132)
Das nächste Kapitel beginnt dann folgendermaßen: Falls sie noch nie von der Fuck Factory gehört haben, dann können Sie sich vermutlich nicht vorstellen, dass es sie – oder ganz allgemein so einen Ort – überhaupt gibt. (S. 133)
Selbst während des Gangbangs in einer Villa, ist es übrigens ihr Freund, den sie sich in sich wünscht. Na, wäre sie halt daheim geblieben. Aber gut, das ist ja ihre Sache.
Dieser Sexschuppen ist es, in dem Catherine endlich (S. 157) begreift, dass sie so sein möchte wie Anna, die sich ihr Studium durch allerlei sexuelle Aktivitäten finanziert. Ich bin nicht mehr dieselbe. ich habe endlich die Linie überschritten (S. 157) konstatiert Catherine. Naja, lang genug hat sie ja gebraucht, jetzt hat sie nur noch etwa weitere 157 Seiten Zeit, zu erkennen, dass sie vielleicht doch immer noch dieselbe ist (wie bereits angedeutet).
Am Ende wird es aber noch einmal spannend, denn Catherine konfrontiert ihren Dozenten Marcus mit dessen Verhältnis zu Anna. Der schaut sich jedoch nur irritiert an und weiß überhaupt nicht wovon die Rede ist. Und plötzlich wird mir klar, dass ich sie gar nicht richtig kenne. Ich weiß so wenig darüber, wer sie ist oder woher sie kommt. (S. 266). Trotzdem begibt sie sich auf die Suche nach Anna, der Leser zweifelt solange am Verstand der Protagonistin, wird aber leider enttäuscht. Auch wenn Catherine nicht bei Trost ist, sie ist wohl doch nicht verrückt. Ihre Suche führt sie in die Hände von Bob DeVille und der hat dann erstaunlich leichtes Spiel sie von der Schicksalhaftigkeit der Begegnung zu überzeugen:
„Es gibt drei Stufen der Initiation.“
„Und die wären?“
„Die Verwirrung der Sinne.“
Hab ich erlebt.
„Die Berauschung des Körpers.“
Kenn ich.
„Orgiastischer Sex.“
Hatte ich auch. Alles korrekt. Und hier bin ich.
Es war also kein Zufall oder eine willkürliche Aneinanderreihung von Ereignissen, die mich hierhergebracht haben.“ (S. 298)
Uh. Flirttechnisch vielleicht nicht für den Hausgebrauch. Naja, Catherine hat dann jedenfalls so orgiastischen Sex, dass er fast tödlich ist, und alles geht so schnell, dass es wie in Zeitlupe abläuft (S. 301). Ernsthaft? Das ist doch nicht das erste Mal, dass die junge Frau Probleme mit der Zeit hat… Es fühlt sich an wie Minuten, obwohl ich vielleicht schon seit Stunden dort hänge. […] alles fühlt sich endlos an (S. 103). Richtig, das war es. Lassen wir mal so dahingestellt.
Nachdem die Heldin also all diese zeitlichen Probleme durchlebt hat, fast gestorben wäre, in den innersten Zirkel einer verbrecherischen Sex-Elite vorgedrungen und ihre Freundin gestorben ist, nachdem sie ihren Freund betrogen hat und sich ein lebenslanges Schweigegelübde über ihre Quasi-Vergewaltigung auferlegt hat, kommt sie zu einer überraschenden Erkenntnis aus diesem ganzen kleinen Abenteuer:
Sex ist ein überzeugendes Argument (S. 316). Das mag auch eine kluge Werbestrategie sein. Die Lektüre ist jedoch höchstens so qualvoll wie die beschriebenen Abenteuer.
Sasha Grey: Die Juliette Society. München: Heyne, 2013, 320 S., € 19,99, ISBN 3-453-26886-5.
Timo Sestu