Kein Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiographie. So lautet der erste, selbstironische Satz aus Urs Widmers neuestem autobiographischen Prosawerk Reise an den Rand des Universums, aus dem er gestern Abend im Literaturhaus Nürnberg vorlas.
Bei dem Werk handelt es sich um einen Hybrid aus Roman und Autobiographie. Das Besondere daran ist: Es hört da auf, wo andere anfangen: Widmers Kindheit, Schul-, Studien- und Lektoratszeit; Elternhaus, Familie, Freunde, die ersten Lieben und seine Frau May; Banales wie Dramatisches, Heiteres und Trauriges, in einer historischen Epoche, zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg; und immer wieder die Eltern, die großen Schatten in seinem Werk.
Leidenschaftliches und lebendiges Vorlesen
Daraus las also der berühmte Schweizer Autor vor, im zugigen, ausverkauften und mit älterem Bildungsbürgertum gehäuften Literaturhaus. Und wie er las! Sein engagiertes Vorlesen war leidenschaftlich, witzig, ironisch und lebendig, unterstrichen durch nahezu perfekte Mimik, Gestik und Intonation, mit minimalem, charmanten Schweizer Akzent – es war angenehmer, ihm zuzuhören, als das Buch, das durchaus zur Langatmigkeit tendiert, selbst zu lesen.
Widmer las in rund fünfundsiebzig Minuten den Anfang und das Ende seiner autobiographischen, detailverliebten Reise vor. Begonnen wurde mit banal-naiven Kindheitsanekdoten in kleinen Dörfern bei Basel, in die sich kontinuierlich immer deutlicher der Zweite Weltkrieg, via Kriegsberichte, der Angst vor dem mächtigen und dunklen Nazi-Deutschland, bis zu Parodien Hitlers durch seinen Vater – wie auch am Ende des Buches durch eine alte hessische Ärztin –, drängte. Abgeschlossen wurde die Lesung mit Widmers ersten literarischen Ergüssen, nach dem Tod des Vaters – einem Literaturkritiker, der nie Schriftsteller wurde und in dessen Schatten er bis dahin stand – und der Hochzeitsreise nach Frankreich und Spanien.
Autobiographie aus schierer Not
Nach einer Pause war noch Zeit für Fragen. Dabei wurde klar, dass Widmer, der sich hier als freundlich und locker entpuppte, aus schierer Not, wie er selbst sagte, eine Autobiographie schrieb, da alle autobiographischen Bezüge und Kontexte von ihm schon in fiktive Prosa metaphorisch verarbeitet wurden und er sich nun an die Fakten machte. Vielleicht sei dies daher auch das literarische Ende und er werde nichts mehr schreiben? Umso passender für eine Autobiographie , dass er sich selbst einen Erinnerungselefanten nennt, mit Zugang zu verschiedenen Erinnerungsstadien; er ist sich aber der Ungenauigkeit eines Gedächtnisses wohl bewusst.
Zu dieser Lesung – wie auch zu vielen andereren, die das Literaturhaus regelmäßig veranstaltet – gab es warme und kalte Gerichte, jedoch leider keinen Fisch und nichts Vegetarisches. Die Organisation und der Service waren dafür gut. Wenn man dazu dann noch deutschsprachige Literaturgrößen, wie den Erinnerungselefanten Urs Widmer, zu sehen und hören bekommt, ist das einen Besuch wert.
Urs Widmer: Reise an den Rand des Universums, Diogenes Verlag, Zürich 2013. Gebunden, 352 Seiten, 22,90 Euro.
Informationen zu künftigen Lesungen im Literaturhaus Nürnberg findet man unter: http://www.literaturhaus-nuernberg.de/
Philip J. Dingeldey