Herta Müller zählt spätestens seit dem Erhalt des Literaturnobelpreises 2009 zu den bedeutendsten deutschen Gegenwartsautoren. Wenn sie nicht gerade an einem Roman schreibt, bastelt sie ihre inzwischen ebenso berühmten Collagen. Am Freitag stellte sie diese Arbeit im Rahmen einer Lesung in Lübeck vor. – Ein Text von Timo Sestu
Die ersten Collagen entstanden ursprünglich als Postkarten an Freunde, die Herta Müller auf ihren Lesereisen durch Deutschland versandte. Die patriotischen Stadtansichten waren ihr zuwider. Aus der anfänglichen Spielerei ist eine existenzielle Passion geworden. Immer mehr Schnipsel lagerten auf ihrem Schreibtisch, bis sie eines Tages unbrauchbar waren. Sie musste tausende Wortschnipsel entsorgen. „Man kann sie ja schlecht putzen“, konstatiert Müller. Inzwischen lagern die Wortschnipsel in Schubladen, alphabetisch katalogisiert, geordnet nach Wortarten, Wortfeldern, Schriftarten.
Die Arbeit an einer Collage, so Müller, sei vergleichbar mit dem Leben. Die Karte haben einen Rand und mehr passe eben nicht drauf. Und wenn die Buchstaben erst einmal kleben, kann man nichts mehr ändern. Trotzdem ist das Basteln an der Collage eher ein lustbetonter Vorgang. Ganz im Gegensatz zum Verfassen von Prosa: Vor dem Schreiben hat Müller Angst. Es sei eine Zumutung für einen selbst und eine Zumutung für die Sprache. Wie kann man Realität und Sprache zueinander bringen? Nur Herta Müllers Biographie zwang sie dazu, ihre Erfahrungen aufzuschreiben. Dass sie heute in erster Linie Schriftstellerin ist, scheint ihr selbst suspekt: „Ich weiß bis heute nicht, was es bedeutet Schriftstellerin zu sein. Das ist ein komischer Beruf.“ Aus ihrem Mund klingt das nicht nach Koketterie.
Das schöne an den Collagen sei, dass die Wörter ja sowieso schon vorhanden seien. So entsteht der Eindruck, sie sei es gar nicht, die dort schreibt, die Wörter machten es von allein. Das anstrengende Ringen um Worte wird so umgangen. Sie sind alle schon vorhanden und müssen nur zueinander finden. Daher ist die Produktion der Collagen auch auf das Basteln angewiesen: Die Texten müssten unbedingt mit dem Material entstehen. „Ich bin ja kein Lyriker“, sagt Müller, „Das machen die Lyriker, dass sie beim Spazierengehen Gedichte schreiben.“ Dennoch müsse der Text auch als literarischer Text dastehen, als bräuchte er das alles nicht, die Farben, die Bilder, die Anordnungen.
Insgesamt liest Herta Müller an diesem Abend über 30 Collagen, die gleichzeitig auch an die Wand projiziert werden. Das Publikum lacht immer wieder über die schrägen Bilder, die in den kurzen Texten erzeugt werden. Das mutet ein bisschen seltsam an, sind diese Worte doch eigentlich Produkt einer tief empfundenen Sprachlosigkeit. Die rumänische Diktatur und persönliche Erfahrungen der Autorin werden erst durch die aus der Zeitung geliehene Sprache überhaupt sagbar. Aber klar: Es ist ein Lachen, das daher kommt, dass man es nicht im Hals behalten kann, wo es doch eigentlich stecken bleiben will – so die Vermutung von Daniel Schreiber in WELTKUNST.
Im Rahmen der Ausstellung „WortBild Künstler“ sind die Collagen auch im Original zu sehen, sie hängen wie Bilder an der Wand. Es fällt auf, dass die Arbeit mit den Zeitungsschnipseln immer präziser geworden ist, seit 1993 der erste Collagenband in Postkartenform erschien. Die einzelnen Wörter und Bilder sind nicht nur größer geworden, sie sind auch akkurater ausgeschnitten und auf kleine Papptäfelchen aufgeklebt. So kommt es auch, dass die Routine des Bastelns den Schaffensprozess nicht etwa beschleunigt. Die äußere Form werde immer wichtiger, sagt Herta Müller im Gespräch mit Ernest Wichner, dem Leiter des Berliner Literaturhauses. Farbe und Typografie spielten eine wichtige Rolle. Die Arbeit an einer einzigen Collage dauere somit eine ganze Woche.
Eigentlich sind diese Collagen die einzigen, die in der Ausstellung „WortBild Künstler“ dem Titel gerecht werden und einen Künstler zwischen Wort und Bild zeigen. Ansonsten sieht man von Johann Wolfgang von Goethe bis Joachim Ringelnatz Schriftsteller, die eine zeichnerische Begabung haben. Gezeigt werden sollen eben Schriftsteller mit einer Doppelbegabung. Die tritt bei den impressionistisch anmutenden Gemälden eines Wilhelm Busch oder den feinen Landschaftsskizzen Goethes sehr deutlich zu Tage. Nur bei Herta Müller treten die beiden Begabungen in den Dialog. In ihren Collagen übersteigt das geschriebene Wort den Status eines sprachlichen Zeichens.
Die Ausstellung „WortBild Künstler. Von Goethe bis Ringelnatz. Und Herta Müller“ ist in Lübeck noch bis zum 20. Oktober zu sehen. Mehr Informationen gibt es hier.
Literaturtipp:
Herta Müller, Vater telefoniert mit den Fliegen. München: Hanser, 2012, 192 S., € 19,90, ISBN 978-3-446-23857-2.