Wie eine Frucht von Süßigkeit und Dunkel

David Grossman - Aus der Zeit fallen

David Grossman ist wohl einer der bedeutendsten israelischen Gegenwartsautoren. 2010 hat er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten. In seinem neuesten Buch Aus der Zeit fallen verarbeitet er den Tod seines Sohnes, der als Soldat 2006 im Libanonkrieg gefallen ist. – Eine Rezension von Timo Sestu

Wie kann ich weitergehen in den September, / und er bleibt im August zurück? (S. 89)

Ein Ehepaar unterhält sich am Küchentisch über den Tod des Sohnes. Von da an beginnt die Reise des Mannes nach „dort“. Dort, wo sein Sohn ist, dessen Tod er noch nicht begreifen kann. Er beginnt Runden im Kreis zu laufen, zunächst ums Haus, dann um die Stadt. Der gehende Mann ist wie ein Orpheus, der sich aufmacht, seine Eurydike zu befreien – ein Motiv, das auch immer wieder aufgegriffen wird. Immer mehr Menschen schließen sich ihm an, laufen ihm nach. Sie alle haben ein ähnliches Schicksal: Sie haben ihr Kind verloren. Der Schuster, die Hebamme, die Netzflickerin, der Herzog, die Frau des Stadtschreibers… Langsam verschwimmen sie zu einer Einheit der Klagenden, sie suchen die Nahtstelle des Todes und finden sie. Am Ende erwächst die Erkenntnis:

Er [der Sohn] ist tot, doch sein Tod,
sein Tod
ist nicht tot.
(S. 122)

Das ist die ganz oberflächliche Handlungsebene dieses hochinteressanten Textes. Mehr passiert eigentlich nicht. Gleichzeitig verhandelt Grossman hier jedoch das Essenzielle: Was heißt es, sein Kind zu verlieren? Diese Erfahrung, die als Verstoß gegen eherne Naturgesetze ausgemacht wird:

 […] Niemals
darf das Objekt (,das Leben des Sohnes‘)
sich im Universum in solch einer Entfernung befinden,
dass der Vater (,das beobachtende Subjekt‘) es
auf einen Blick ganz, von Anfang bis Ende erfassen kann. (S. 65)

Für diese Grenzerfahrung, die scheinbar logische Gesetze überschreitet, sucht Grossmans Text eine Sprache. Dieser innere Kampf ist nach außen umgelegt worden und wird durch die verschiedenen Figuren geführt, allen voran den beiden Erzählern. Da gibt es einmal den verbannten Hofnarren, den Chronisten der Stadt, der die Geschichten der anderen Figuren aufschreibt. Der Chronist selbst hat ebenfalls sein Kind verloren, wir alle anderen, nur er spricht nicht darüber, er versucht nur die Stimmen der anderen einzufangen. Die Beschäftigung mit dem Verlust erfolgt also distanziert, sein Protokoll spricht nicht von ihm, obwohl es auch seine Geschichte erzählt.

Die andere Erzählerfigur ist der Zentaur, Halb-Dichter-halb-Schreibtisch (S. 76). Er ist gefangen vom Schmerz des Verlustes und hat eine Schreibblockade, die sich erst im Zuge des Beschwörungsrituals löst, das die anderen Figuren durchführen. Als sich für die Gehenden eine Art magisches Tor in die Totenwelt öffnet, löst sich die Blockade des Zentauren. Er kann aufstehen, ans Fenster treten und erzählen. Die verschiedenen Stimmen lösen sich auf, vereinen sich miteinander, ergänzen sich. Die Multiperspektivität wird am Schluss zu einer verstehenden Einheit zurückgeführt. Die zerbrochene Realität fügt sich wieder zusammen, es sind wohl alle diese Stimmen irgendwo Figurationen des Suchens. Sie helfen sich gegenseitig auf die Sprünge.

Hieran schließt sich die Gattungsfrage. Worum handelt es sich bei diesem Text überhaupt? Im Hebräischen Original ist er mit Erzählung für Stimmen unterschrieben. Bei Hanser hat man auf einen diesbezüglichen Paratext verzichtet.

Die Struktur ist zwar durchgängig dialogisch, es gibt aber auch, wie schon erwähnt, zwei Erzähler, die sich jedoch ebenfalls mit den anderen Figuren unterhalten – nur eben nicht, wie die anderen, in Versen. Man könnte es also als Versdrama bezeichnen oder als ziemlich lange Ballade, die ja auch durch ihren epischen Charakter definiert ist. Ein wenig erinnert das Erscheinungsbild an Goethes West-östlichen Divan, allerdings handelt es sich bei Aus der Zeit fallen um weit mehr als eine inhaltlich verknüpfte Gedichtsammlung.

Grossmans Text enthebt sich mit seinem mythischen Figurenpersonal Zeit und Raum und schafft Platz für die magische Begegnung mit dem Tod. Das Erzählen ist ein fortdauernder Verzögerungszustand. Es bringt die Toten nicht zurück, doch der Tod selbst wird ins Leben geholt, in der Schwebe gehalten. Aus dem Totenreich führt kein Weg, aber der ganze Tod kann ins Leben geholt werden. Ein umgekehrter Orpheus also. Am Ende findet der Zentaur einen Zugang zu dem so unerreichbaren „dort“. Überrascht, ja fast erschrocken, konstatiert er:

Und mir bricht es das Herz, mein Augenstern,
wenn ich dran denk, dass ich
– ist’s möglich?! –
dass ich dafür die Worte fand.
(S. 122)

So schnell wie der Erzähler scheinbar Worte findet, so schnell ist das schmale Werk auch gelesen. Allerdings: Genauso schwer verdaut sich der hochkomplexe Inhalt, wie die Suche nach den richtigen Worten einer mühsamen Beschwörung bedurfte.

Was die deutschsprachige Ausgabe angeht, liegt das zu einem guten Teil natürlich auch an Anne Birkenhauers sprachmächtiger Übersetzung aus dem Hebräischen, die auch schon Grossmans (ebenso lesenswerten) Roman Eine Frau fliegt vor einer Nachricht übersetzt hat.

 

David Grossman, Aus der Zeit fallen. München: Hanser, 2013, 128 S., € 16,90, ISBN 3-446-24126-4 .

Timo Sestu

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