Am Dienstag, 25. Juni, eröffnete ARENA… der jungen Künste das diesjährige Festival feierlich im Markgrafentheater. Den Beginn macht eine mehrsprachige Reflexion über Grenzen, die Bühne ist leer und schwarz, man hört nur Stimmen, die durcheinander sprechen: auf deutsch, englisch und französisch. Schon gibt es die erste Grenze: Man versteht nicht alles – sei es, weil man einer Sprache nicht mächtig ist, sei es, weil sich die Stimmen überlappen und sich akustisch immer mal wieder selbst blockieren. Das ist aber auch eine Dichotomie von Grenzen: Einerseits grenzen sie zwei Teile voneinander ab, wie etwa zwei verschiedene Sprachen. Andererseits sind Grenzen Schnittstellen. Sie verbinden zwei Teile miteinander: Durch die Übersetzung des Audiotextes wird die Botschaft auch denjenigen zugänglich, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind: Kann es ein Limit für Grenzen geben oder sind Grenzen einfach grenzenlos? – Ein Text von Timo Sestu
Es sind während der Eröffnungsgala vor allem softe Grenzen, die thematisiert werden. Die Schirmherren sprechen hinter einem Bauzaun. Und obwohl der ohnehin schon sichtdurchlässig ist, werden sie noch einmal auf eine Leinwand übertragen. So wird eine denkbare Grenze umgehend wieder aufgehoben. Aber vermutlich wird während des Festivals sowieso viel zu viel über Grenzen gesprochen werden, wo es doch dem Titel zufolge um die Überwindung derselben geht. Interessant ist also eben nicht der Bauzaun vor den Nasen der Schirmherren, sondern dass der so überhaupt nichts an der Begrüßungssituation ändert. Grenzen verschwinden, wenn sie zu dekorativen Elementen werden. Das ist im echten Leben nicht anders als auf der Bühne. Nur der Weg dorthin ist vielleicht weiter, denn anders als auf der Bühne rechnet auf der Straße ja niemand damit, dass es sich bei einem Zaun um einen künstlerischen Gegenstand handelt. Außer vielleicht diese Woche in Erlangen…
Eröffnungsstück „Vôo Solo“
Eine Frau lernt Fliegen und Fallen. Und steht wieder auf. Sie lässt sich entmutigen, fasst neuen Mut und sucht neue Höhen. Die Companhia Auto-Retrato mit Performerin Gabriele Schwab präsentierte eine feinfühlige Körperperformance als Eröffnungsstück im Markgrafentheater.
„Vôo Solo“ ist ein Stück zwischen Ekstase und Entspannung. Gabriele Schwabs Figur durchlebt dabei verschiedene körperliche Zustände. Einmal ist sie an Armen und Beinen gefesselt und schlägt Saltos mit verbunden Augen, in ruhigen Momenten dann gießt sie die Blumen in einem kleinen Libellengehege. Und dann gibt es da noch das Vertikaltuch, an dem das Fliegen und Fallen gezeigt wird. Man sieht Gabriele Schwab an, wie mühsam dieser Prozess ist und trotzdem beweist sie große Kunstfertigkeit. Anders wäre ein Fallen nicht denkbar.
Der letzte Sturz legt etwas frei. Es geht einher mit der vollständigen Entblößung des Oberkörpers. Verspieltheit und Unschuld sind nun sehr fern, die Figur hat nun etwas amazonenhaftes. Auch die Bühnensprache wird rauer. Aus dem Off werden der Performerin jetzt fremdsprachige Befehle durch eine Männerstimme zugerufen. Diese werden in selbstzerstörerischer Weise befolgt, bis zum finalen Schrei: „Stopp!“
Sehr deutlich wird hier die innere Zerrissenheit, das Bühnengeschehen wird zu einem schönen und bösen Traum und nie lässt sich mit Sicherheit sagen, ob ein Erleben jetzt positiv oder negativ bewertet wird. Auch deswegen, weil die Brüche sehr stark sind und sich am Ende nur ein sehr fragmenthafter Eindruck ergibt. Deutlich wird nur, wie sehr die Figur der Bühne ausgeliefert ist. Diese lässt immer wieder nur eine Handlungsmöglichkeit zu. Und von dieser Handlungsmöglichkeit gibt es auch kein Entweichen, Langeweile und totale Überforderung müssen gleichermaßen geduldet werden und gehen zeitweise auch Hand in Hand. Die Figur, die auf der Suche nach sich selbst ist, wird plötzlich sehr klein auf einer Bühne, die alles abverlangt.
Eröffnungsstück „Christian Moosbrugger“
Christian Moosbrugger ist angeklagt, eine Frau vergewaltigt und brutal ermordet zu haben. Das ist der Ausgang für das gleichnamige Stück der Gruppe „What you see is what you get“, in dem Spiel- und Performace-Szenen einander abwechseln.
Wenn der Zuschauer den Raum betritt, weist lediglich die kleine Bühne am Seitenrand darauf hin, dass hier gleich Theater gespielt werden wird. Beleuchtete Folienschläuche durchziehen scheinbar dekorativ den Raum. Darin stehen aber die drei Schauspieler, zwischen denen anschließend der Fall Moosbrugger verhandelt wird. Die Folien sind Cocons ohne erkennbaren Zweck. Sie stoßen am Anfang die Schauspieler aus und nehmen sie am Ende der Produktion wieder auf, als Schutzraum, als Gefängnis, als Zwangsjacke?
Teilweise gewinnt man tatsächlich den Eindruck, in einer Irrenanstalt zu sein. Doch, das ist das Woyzeck-hafte an diesem Stück: Wer ist der Irre? Die Doktorszenen, die Moosbrugger bei der Feststellung seiner Zurechnungsfähigkeit zeigen, lassen zweifeln, ob es überhaupt eine gerechte Instanz gibt in dieser Theaterwelt. In den noch abgedrehteren, eher performativen Sequenzen wird die Welt dann völlig auf den Kopf gestellt: Werturteile, die man schon gefällt hatte, müssen revidiert werden. Wer ist dieser Christian Moosbrugger, er bleibt während der gesamten Aufführung so ungreifbar und transzendiert immer wieder zwischen den drei Schauspielern. Für den Zuschauer wird Christian Moosbrugger so zur vielschichtigen Figur, es entsteht ein Zwiespalt zwischen Identifikation und Ablehnung.
Ein weiteres Element dieses Verwirrspiels ist die Synchronisation der Spielszenen. Sie entlarvt die Wirklichkeit als Konstruktion eines herrschenden Anonymus, möglicherweise als buchstäbliches Hirngespinst eines Verbrechers. Wie dem auch sei, ein deutlicher Realitätsbezug kann so jedenfalls nicht mehr hergestellt werden: Was sagen die Figuren ursprünglich? Der Zuschauer bleibt so ratlos wie die Figuren, die nicht selbst sprechen dürfen, in diesen Szenen.
Christian Moosbrugger wird am Ende endlich verurteilt, ohne dass man zweifelsfrei entscheiden kann, wer nun der Böse ist. Das scheint am Ende auch keine Rolle mehr zu spielen, die Inszenierung löst sich am Ende in eine Party auf. Moosbrugger hin oder her, am Ende bleibt er für den Zuschauer auch nur als zweispaltige Zeitungsmeldung in Erinnerung.