Was bedeutet Individualität in Zeiten der Globalisierung? Oder anders formuliert: Wo hat Individualität noch Platz in einer Welt, in der jeder austauschbar geworden ist?
Eigentlich ist Bamberg ja nicht so groß. Es gibt hier auch keinen Flughafen. Aber verstehen können wir Falk Richters Bild der durchorganisierten Zeit mittlerweile überall. Und so brachten die Schauspieler des E.T.A.-Hoffmann Theaters am vergangenen Dienstag „Electronic City“ nach Nürnberg.
Schon von „Welcome Home“ gehört? Das ist eine globale internationale vernetzte Hotelkette. „Welcome Home“ lässt einen vergessen, dass man jede Nacht in einem anderen Bett schläft. Wäre da nicht diese Wartezeit in diversen Flughafenlobbys, Wartesäle, in denen tausende Menschen gemeinsam herumsitzen, alle unterwegs zu einem Meeting. Die Flughafenanzeige gibt durch: Vier Minuten Verspätung. Im selben Moment machen zig Menschen dasselbe: Sie zücken ihre Handys, wählen, warten. Schließlich: Entschuldigung? Ja hier ist X. Ja mein Flieger hat vier Minuten Verspätung. Ja es tut mir leid. Könnten wir das Meeting verschieben? Vielleicht um vier Minuten?
Es ist beinahe, als wären die Männer und Frauen in der Wartehalle Seelenverwandte.
Nur was, wenn man nicht mehr weiß, wo man eigentlich zu Hause ist? Wenn sich der Flughafen bedrohlich vertraut anfühlt? Und auch überall gleich aussieht? Und man sich deshalb noch nicht mal merken kann, wo man gestern war, heute ist und morgen hinfliegt?
Natürlich helfen Smartphone, Tablet junior und der gute alte Laptop, um das Chaos zu begrenzen und perfekt funktionieren zu können. Denn darum geht es in der Electronic City, der modernen Metropolis.
Tom erlebt sein Leben wie einen Film. Alles ist fragmentarisch. Die Beständigkeit eines Raumes wird durchs ständige Reisen aufgelöst, einen Dreh- und Angelpunkt gibt es nicht. Zu spät zu einem Meeting zu kommen, bedeutet, dass andere Menschen gefeuert werden oder Toms Aktien den Bach runtergehen.
Aber da gibt es noch Joy. Joy hat sich in einer Warteschlange zuerst vor ihn und dann in Toms Leben gedrängelt und versucht verzweifelt, ihn per Handy zu erreichen. Auch sie ist ständig unterwegs: Eine austauschbare Standbykraft für den Flughafen- Sushiverkauf. Da müssen sich die beiden auch mal mit 15 Minuten im Prayerraum von Amsterdam begnügen, bevor Tom wieder weiter jetten muss.
Und beide sind Austauschprodukte, kleine Zahnrädchen in einem riesigen System, jederzeit ersetzbar. Das ist bedrohliche Realität, obgleich Falk Richters sein Werk schon vor zehn Jahren als Zukunftsprognose verfasst hat.
„Electronic City“ kann man auf vielfache Weise inszenieren. Das Stück selbst erinnert eher an einen Fließtext als an eine klassische Vorlage.
Das schafft vielerlei Möglichkeiten. Ob man Tom durch eine Marionette ersetzt und ihn sich durch andere Schauspieler bewegen und sprechen lässt oder ob man es wie Alice Asper macht und Tom von sechs Schauspielern dargestellt wird, die ein und dieselbe und doch unterschiedliche Figuren verkörpern. Gewissermaßen sind sie es auch, denn sie begegnen sich am Flughafen, legen je ein eigenes Verhalten an den Tag und sie drehen einen gemeinsamen Film. Man könnte diese Konstellation aber auch als sechs unterschiedliche Tomfiguren oder sechs Facetten von Tom sehen.
Stellenweise spielen die Schauspieler nicht nur vor dem Publikum, sondern auch vor einer Kamera, die erneut den Bezug zu Toms Realitätsverlust aufstellt. Ist das alles ein Film? Die Aufnahmen der Kamera werden auf die hintere Wand der Bühne projiziert, so dass man als Zuschauer sowohl den Darsteller als auch dessen Spiel mit der Kamera beobachten kann. Obwohl in dieser Inszenierung vieles gleichzeitig passiert, gibt es doch so etwas wie einen gemeinsamen Rhythmus. Dieser zeigt sich in einem ausgewogenen Auf und Ab der Emotionen, dem gleichmäßigen Wechsel von Lautstärken und Pausen, dem Sprechen einer oder mehrerer Figuren.
Alice Asper hat in Bamberg zuletzt „the killer in me is the killer in you my love“ von Andri Beyeler inszeniert. Dazu agierten die Schauspieler in einem leer gepumpten Schwimmbecken eines Hallenbades. Auch in „Electronic City“ nutzen die Schauspieler die Gegebenheiten des Raumes. Alle Ein- und Ausgänge sowie die Treppen zwischen den Zuschauern werden in eine choreographieartige Szene eingebaut. Zu „Thistle and Weeds“ von Mumford and Sons hasten die Akteure durch die Kammerspiele und ziehen einen typischen Bankerkoffer hinter sich her- ratternd über die Stufen des Theaters und die hallenden Fließen des Foyers. Und am Ende stehen sie alle wie versteinert da, auf ihre Tablets blickend. Outsourcen und Outtasken. Very very flexible.
Thomas Jutzler, Eckhart Neuberg, Felix Pielmeier, Volker J. Ringe, Patrick L. Schmitz und Florian Walter spielen als Tom an der Seite von Sybille Kreß und Verena Ehrmann, die gemeinsam Joy darstellen.
Verena Ehrmann und Sybille Kreß sind erst seit dieser Spielzeit im Ensemble, die männlichen Kollegen sind schon seit mehreren Jahren dabei. Deshalb verwundert auch nicht die perfekte Abgestimmtheit des gemeinsamen Spiels. Auch im Einzelnen überzeugen die Darsteller, und können, wie im Nachgespräch vielfach bekundet wird, bis zum Ende die Spannung aufrechterhalten und das Publikum mitreißen. Für diese Inszenierung wandern viele Tischtennisbälle in der Wahlurne des Publikumspreises.
Kann eine Geschichte wie diese gut ausgehen? Ist es nicht nur eine Frage der Zeit, bis Tom in eine Psychiatrie eingeliefert werden muss? Doch dann klingelt sein Handy.
Und es ist Joy. Und da spricht Tom von Liebe. Und das erste Mal- so scheint es- redet der Mensch, der ständig über die Zukunft der anderen entscheidet, über seine eigene: „Wir schaffen das schon.“
von Anna Greger