Normalerweise ist Geschichte ja immer schon vorbei. Was man dazu in der Schule lernt, bleibt undeutlich, unvorstellbar. An diesem Abend bringen Nicola Unger und Yvette Coetzee deutsche Geschichte in die Köpfe zurück. Einen Teil, den wohl die wenigsten in der Schule gelernt haben: wer hatte neben Englisch, Französisch und Latein schon Unserdeutsch auf dem Stundenplan?
Yvette Coetzee trägt ein hautfarbenes Knöpfkleid, das ihr bis übers Knie reicht und dort eckig absteht. Sie hat eine große Tafel mitgebracht und eine dreidimensionale Landkarte in Form eines, hauptsächlich blauen, Schweins. Das ist Neuguinea. Dort haben sich die deutschen Kolonien im 1. Weltkrieg niedergelassen. Sie fanden Ehefrauen, sie gründeten Familien, es kamen Kinder, die weder weiß noch schwarz waren, sondern gemischt.
Dann war der Krieg vorbei und Australien annektierte den östlichen Teil der Insel. Sie jagten die deutschen Männer fort und ließen sie nie mehr zu ihren Familien zurückkommen. Die Kinder sammelte man ein und missionierte sie. Sie wurden Christen, lernten zu arbeiten, ehrlich zu sein, erzählt ein alter Mann, der früher eins dieser Kinder war. Er gehört zu der Generation, die noch ‚Unserdeutsch‘ spricht, neben Englisch und womöglich noch einer anderen Sprache.
Aussterbende Sprache
Weltweit gibt es nur noch um die 60 unserdeutsche Sprecher. Es gibt eine eigene Grammatik, die eng an die hochdeutsche angelehnt ist. Einen kleinen Exkurs davon gibt uns Yvette. Sie ist heute Abend die Lehrerin und lehrt die Zuschauer die aussterbende Sprache ‚Unserdeutsch‘. Aber eigentlich sitzen wir hier doch im Theater, oder? Weil das Thema dieses Abends wirklich existiert und für seine Präsentation der Rahmen Schule gewählt wurde, verschwimmt Realität und Fiktion ineinander.
Wie bei Harry Potters antwortenden Tagebuch öffnet sich mit der Tafel das Tor zu dieser verschwindenden Kultur. Bilder und Zeichnungen, Töne und kurze Filmchen sollen die letzten Unserdeutschen lebendig werden lassen, doch wirkt der Vortrag zu schulisch, um sich wirklich unterhalten zu fühlen.
Wenn die alten Herrschaften Schlager trällern, die sie noch aus ihrer Kindheit kennen, schwindet die Distanz. Woran erinnern sie sich noch? Gebete, Kinderspiele, Essen.
Kartoffelknödel ohne Milch und Kartoffeln
„Ich kenne noch Kartoffelknödel. Mit Kartoffeln, Milch und Salz. Doch Milch hatten wir keine, also haben wirs mit Wasser gemacht. Auch Kartoffeln hatten wir nicht, also haben wir Süßkartoffeln genommen“, erzählt Yvette Coetzee. „We adapted.“ Und wenn man an Weihnachten ‚Stille Nacht, Heilige Nacht‘ hört, ist alles wieder gut, auch wenn das Fest ganz anders ist, als man es als Kind gefeiert hat, mit Papas Flöte und drei Stunden lang Abendmesse.
Was ist Heimat und wie bildet sich eine Identität? Die südafrikanische Schauspielerin hat dazu eine eigene Geschichte, die sie selbst theatral verarbeitet hat, auch über ihre Großmutter aus Namibia. Nicola Unger hat die 14 Unserdeutschen, von denen sich der Text zusammensetzt, persönlich getroffen. Wenig wurde vom Text verändert, vieles ist rausgeflogen, besonders die Elemente, die den theatralen Rahmen bedienen. Yvette Coetzee hat sich schwer getan, eine Rolle zu finden, weil sich die Inszenierung aus vielen kleinen Teilen zusammensetzt. Für jeden Teil schlüpft sie in eine andere Figur, hauptsächlich sieht sie sich aber als Storyteller.
Offene Fragen
Der Zuschauer bleibt mit vielen Fragen alleine, über die er sich selbst Gedanken machen muss. Was sagt es aus, dass die tatsächliche Gewalt der deutschen Einwanderer nicht gezeigt werden? Warum kommen die Mütter der „halfcast generation“ nicht vor? Empfindet der deutsche Zuschauer Schuld über die damals verübte Grausamkeit oder Trauer, dass diese Sprache verschwinden wird?
Darüber muss jeder selbst nachdenken.
Johanna Meyr