Von Macht und Ohnmacht

Das Bühnenbild zeigt einen riesigen Stadtplan. Berlin steht Kopf.

Das Bühnenbild zeigt einen riesigen Stadtplan. Berlin steht Kopf.

Vier Stunden und zwanzig Minuten, zwei Pausen. Klingt nicht unbedingt nach einem kompakten Theaterabend. Was Luk Perceval in seiner Inszenierung von „Jeder stirbt für sich allein“ auf die Bühne bringt, ist trotzdem beachtlich. Warum? – ein Text von Timo Sestu

Alles beginnt mit den Worten der Romanvorlage von Hans Fallada: „Die Briefträgerin Eva Kluge steigt langsam die Stufen im Treppenhaus Jablonskistraße 55 hoch.“ Damit ist der Erzähltheater-Abend eröffnet, der den Roman durch die Schauspieler sprechen lässt. Durchbrochen wird die Erzählung an der Rampe immer wieder von Dialogsequenzen. Körperlich begegnen sich die Figuren jedoch so gut wie nie.

Kurz zur Geschichte: Das Ehepaar Otto und Anna Quangel verliert seinen einzigen Sohn im Krieg gegen Frankreich. Sie beschließen, Widerstand gegen das Hitler-Regime zu leisten und verteilen Postkarten mit Texten, die die Bevölkerung wachrütteln soll. Sie hoffen dadurch ihren Beitrag zu einer besseren Welt zu leisten, sie hoffen, diese Welt auch noch zu erleben.

Die Macht der Karten

Die erste Karte wird von einem Schauspieler gefunden, der sich darauf hin mit seinem Anwalt bespricht. Übrigens ein schöner Meta-Moment, als der Schauspieler die Karte findet und erzählt: „Der Schauspieler sah hoch. […] Er hatte das Gefühl, dass viele Augen auf ihn sahen.“ Plötzlich ist das Publikum dabei, wird zum irgendwie Beteiligten. Hin und wieder werden Sätze aus dem Roman geschickt auf diese Weise genutzt. Es folgt eine durchaus skurrile Szene, die beiden Finder werden zu Karikaturen ihrer selbst. Während sie wie Verrückte um die Karte herumagieren, wirkt deren Präsenz umso stärker. Sie liegt schwer und belastend auf dem Tisch.

Komik spielt in Percevals Inszenierung ohnehin eine tragende Rolle. Interessanterweise werden nämlich sämtliche Antagonisten der Quangels als debile Witzfiguren gezeichnet. Da wäre etwa der Kriminalrat Zott, ein kleiner, dicker Mann mit sächsischem Dialekt, für dessen Darstellung Gabriela Maria Schmeide verdienten Szenenapplaus erhält. Das lässt die Gegenspieler der Quangels natürlich ziemlich harmlos erscheinen, der Zuschauer lacht über sie. Alle Mittel sind dafür Recht, vor allem in der Dialekt-Kiste wurde eifrig gekramt: Neben der obligatorischen Berliner Schnauze hören wir etwa Sächsisch und Wienerisch.

Der Tod ist die einzige wirkliche Freiheit, die noch für uns Menschen infrage kommt.“

Lediglich Escherich scheint in dieser Horde von offensichtlichen Vollidioten normal zu sein. Er ist dann ja auch derjenige, der die Quangels fasst. Diese charakterliche Hervorhebung nimmt schon vorweg,welche Wandlung er durchmachen wird. Er ist nicht wie die anderen, am liebsten Würde er sich doch mit Otto Quangel identifizieren. Als er sich eingestehen muss, dass er „nicht so mutig, wie Otto Quangel“ ist, erschießt er sich. Hier wird auch deutlich, wie hervorragend mit den wenigen technischen Mitteln gearbeitet wurde: Bei Quangels Verhör lastet Escherichs Schatten riesenhaft über der Szene. Er hat triumphiert, der Fall ist gelöst. Die Standfestigkeit des Werkmeisters lässt ihn dann zweifeln, der Schatten verschwindet, jetzt wirkt Escherich fast klein neben dem „Klabautermann“.

Man möchte zunächst meinen, dass die Darstellung der Übeltäter die tatsächliche Bedrohung, die auf das Ehepaar Quangel wirkt, verharmlost. Letztlich wird aber auch genau so nachvollziehbar, wieso die beiden in aller Seelenruhe weiterhin Karten schreiben und sich in Sicherheit wiegen. Der Zuschauer glaubt selbst nicht recht, dass die Quangels auf diese Weise zu fassen sein könnten. Die anschließende Verhaftung müsste also überraschen oder doch zumindest schockieren. Genau hier geht der Plan aber nicht so ganz auf: Nach dreieinhalb Stunden Theater gibt es schlichtweg kein Bild mehr, das der statischen Szenerie eine solche Dynamik geben könnte. Also mal wieder Sirenengeheul.

Übrigens geht zumindest der Roman den genau umgekehrten Weg. Die vielen Exkurse in das Hauptquartier der Gestapo und der Erzähler selbst, machen immer wieder deutlich, dass sich der Strick um den Hals der Quangels immer enger zieht. Das beide sterben würden, steht von vornherein fest. Der NS-Apparat wird gerade dadurch bedrohlicher, dass er für die Quangels unsichtbar arbeitet. In der Inszenierung des Thalia-Theaters hingegenübt das „Böse“ diese Gewalt nicht aus. Die Karikaturen sind an vielen Stellen zu plakativ. Karl und Trudel Hergesells Schicksal hätte man am Schluss nicht mehr erzählen brauchen. Vielleicht hätte das die Intensität des Quangelschen Schicksals erhöht. Das hätte aber andererseits verborgen, dass die Entscheidung, Karten zu schreiben, zum Kollateralschaden geworden ist. Sie reißt alle mit in den Tod. Jeden für sich. Allein.

„Es nützt nichts zu früh zu sterben.“

Ach, was könnte man noch alles analysieren und kommentieren. Schlussendlich ist es dann vielleicht besser, dieses Stück vor allem Menschen mit genügend Sitzfleisch anzuempfehlen. Langweilig wird es über die viereinhalb Stunden sicher nicht. Meine, kompaktere, Inszenierung wird am 24. Oktober 2013 an der Studiobühne Erlangen ihre Premiere feiern. Im März 2014 zieht das Theater Erlangen nach. Man darf gespannt sein.

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