Die Vielseitigkeit, die Locations, die Musik, das Publikum, die Winternacht…
– unbekannter Festival-Besucher vor dem K4
Als wir die Pressekarten abholten, bändelte ich mit der Fotografin an. „Es ist obszön“, sagte sie. „Ich frage mich, wer diesen Schnee in unsere Breitengrade geschickt hat.“ Ich grinste. In den sympathischen Lichtern der Stadt quoll unser Atem wie die Nachwirkungen kleiner Detonationen, die sich während einer Begegnung ereignen. Es war sehr passend, dass ich mit einer Fotografin anbändelte. Die re>flex Redaktion hatte zwei Journalisten losgeschickt, um über das Nbg.Pop zu berichten. Woher sollten wir Bildmaterial bekommen? Ich verlor meinen Kollegen Aldo Hansen, als mir die Fotografin erzählte, dass sie Tiefsee-Fotografin ist und hauptsächlich für Magazine wie Maritim und Triton arbeitet. Ich war kurz verwirrt. Sie hatte nicht mal einen Fotoapparat dabei. Ich kratzte mich am Kopf.
Sie erzählte, dass sie letztens eine Serie über sogenannte Aquanauten veröffentlicht hat.
„Du kannst mir also nicht mit ein paar Fotos aushelfen?“, fragte ich. Sie schüttelte mit dem Kopf. „Lass uns den Abend einfach gemeinsam verbringen“, sagte sie. „Die Fotos kannst du dir auch woanders beschaffen.“ „Was soll’s“, brummte ich.
„Alles ändert sich, wenn du mal mit einem Riesenmanta geschwommen bist“, sagte sie.
Beim letzten Konzert fand ich Aldo’s Notizbuch. Ich werde seine Anmerkungen in diesen Bericht einarbeiten. Eigenartigerweise war er bei den selben Konzerten. Als wir mit der U-Bahn in die Innenstadt fuhren, murmelte Aldo, dass er sich nach Südfrankreich absetzen wird. „Bei diesen Temperaturen bleibt mir nicht anderes übrig“, sagte er.
Die Tiefsee-Fotografin hieß Judith. Ihr Vater ist Tauchlehrer. Ich mag sie.
Wir stiefelten ins K4, um im Festsaal I Heart Sharks zu hören. Das Nbg.Pop-Bändchen an meinem Handgelenk klebte an meinen Armhaaren. Ich behob das Problem. „Schreib in deinen Artikel, dass die Stimmung hier total freundlich ist“, sagte sie. Wir gingen die Treppen hoch und zwängten uns durchs Publikum, bis wir einen passablen Platz gefunden hatten. Um uns wurde dezent getanzt, ein Mädchen blies gekonnt den Rauch ihres Joints gegen die Stroboskoplichter. Judith grinste mich an. Ein Kerl tippte mir auf die Schulter und fragte nach Feuer. Ich hatte keins. Wir unterhielten uns kurz. Als er hörte, dass ich Journalist bin, sagte er: „Das klingt mir nach dem guten, alten Plastikbier-Journalismus. So muss das sein.“ Ich verstand nicht, was er meint, aber ich lächelte. „Riechst du die ganzen Mädchen?“, fragte er. „Riechst du die ganzen Parfums? Normalerweise ist das zu viel. Aber bei Nbg.Pop ist dieser pompöse Geruch absolut angebracht.“
In Aldo’s Notizbuch fand ich folgende Passagen zu dem I Heart Sharks Konzert:
I Heart Sharks. Trio aus New York, London und… der bayrischen Provinz, mit beachtlich textsicherer Fanbase im blauen Festsaal des K4. Tanzbefehl und blaue Lichter. Strobo. Analoge Synthesizer ballern in althergebrachter New Order-Manier, dazu eine dieser Ping Pong-Gitarren von den Foals oder dem Bombay Bicycle Club, die man sich wie bunte Gummibälle vorzustellen hat, die munter hin- und her hüpfen und niemals damit aufhören. Zwischenzeitlich, bei pumpenden Mitgröhlnummern wie „Neuzeit“ klingt das alles zwar eher nach Frittenbude und fühlt sich auch so an, aber „Monogamy“ und „Wolves“ sind maßgeschneidert groovende Indietronichits, zu Friendly Fires oder The Rapture fehlt nicht mehr viel. Die Menge tanzt, die Menge springt, die Menge eskaliert. I Heart Sharks. Bereit für größere Locations, schätze ich. Die Lunte brennt bereits…
Später liefen wir in die Klara-Kirche. „Rue Royal machen schöne Musik…wie Sparklehorse mit warmen Träumen“, sagte Judith. Im Eingangsbereich der Kirche flackerten mehrere Kerzen. Eine atmosphärische Stille senkte sich auf unsere Gedanken. Das Publikum hörte bedächtig zu. Weil alle Plätze voll waren, gingen wir hoch auf die Empore. „Siehst du die beiden, die da umschlungen sitzen?“, fragte Judith. Ich schaute ins Publikum. Liebende saßen einträchtig nebeneinander. Der Sound flirrte leicht und erreichte uns nur verschwommen. Jemand hatte eine Bibel benutzt, um seine leere Bierflasche zu deponieren.
Seltsam, dass wir Aldo von unserem Platz nicht sahen. Er schrieb:
Rue Royale. Weihevolle Klänge im Gotteshaus… I Heart Sharks hätte man hier wohl nicht hereingelassen. Größtmöglicher Gegensatz; vollendeter Wohlklang neben einem übersteuerten Grundrauschen, dass sich irgendwo in der Kuppel der verliert. Kontemplatives Sinnieren auf Kirchbänken, während Gitarre und Klavier, Stimme und Stimme, sich umspielen, in sachtem Tempo, ohne Songs, die aus dem gleichförmigen Fluss ausbrechen, der manchmal etwas einsam von den kargen Kirchwänden widerhallt. Sanft gezupft, gravitätisch, Moll und eine Schwermut, die dein Herz will, aber es nicht bekommt, weil die Songs von Rue Royale nicht zwingend genug sind, sich ohne Widerhaken einzusetzen verflüchtigen, spätestens dann, wenn man aus der Kirche hinaus wieder in die kalte Nacht tritt, die noch immer den zu früh gekommenen Winter hofiert…
Die Zwinger Bar ist vielleicht die lässigste Kneipe der Stadt. Wir kamen für ein paar Stücke von My Name Is Music vorbei. „Ich war die letzten Jahre ständig unterwegs“, sagte Judith. „Ich ziehe jetzt nach Nürnberg.“ „Warum nach Nürnberg?“, fragte ich. „Diese Stadt hat großes Potenzial“, erklärte sie. „Man sieht das doch an Nbg.Pop. Es gibt genügend Locations, die man bequem ablaufen kann. Nürnberg ist so klein, dass es nicht überlaufen wird. Aber groß genug, um ein gewisses Einzugsgebiet zu haben. Ich hoffe, da kommt noch mehr in den nächsten Jahren…“ Um es kurz zu sagen: My Name Is Music brachten den Rock n‘ Roll. Ein Rentner hüpfte neben uns durch den Schuppen. Er trug Turnschuhe, Jogginghose und Unterhemd. „I see Franksteins Monster tonight“, sangen sie. Aber sogar der gute Frankenstein hätte sich in dieser Nacht freiwillig zur Blutspende gemeldet.
Scheinbar war Aldo auch da:
My Name Is Music. Die Alpen-Version der Kills, veredelt mit goldenem Zylinder und österreichischem Zungenschlag; klingt ruppig und groovt wie geschmiert, klingt aber auch nicht aufregend, muss es auch nicht, denn diese Form des elektrifizierten Knochenblues ist zweckdienlich und zeitlos… Rrrrrock’n’Rrrrrolll … wird niemals sterben, hat Neil Young mal behauptet; eine vernünftige These, die nach einigen Bieren umso überzeugender scheint…
Das Highlight war Gravenhurst im Club Stereo. Ich kann dazu nicht viel schreiben, weil ich versunken neben den Boxen kniete und mit geschlossenen Augen zuhörte. Ich weiß nicht, was außenrum passierte. Ich fand es wunderbar.
Aldo hatte einen anderen Blickwinkel:
Gravenhurst. Endlich wieder zurück, ein Highlight, natürlich. Nick Talbot, Mastermind der Band, flüstert sich im Stereo durch die drei Alben der Band; mit stoischer Ruhe betreibt er sein filigranes Picking und singt all die langen düster-melancholischen Songs mit ihren veredelten Twee-Pop-Harmonien, die auch 2012 noch klingen wie der Norden Englands an einem besonders trüben Herbsttag, während die grauen Wellen des Atlantiks stoisch an die Felsen der Küste rollen. Nur ein Teil des Publikums im Stereo, spät in der Nacht wohl außerstande, zuzuhören, stört Gravenhursts wunderbare Song-Elegien mit permanentem Geschwätz, dass zu einem hässlichen, zermürbenden Raunen verkommt…. und man wünscht sich, Gravenhurst würden ein wenig mehr ihre alte Shoegaze-Affinität ausleben und mit kreischenden, rauschenden, sägenden Rückkoppelungseffekten all die Idioten aus dem Keller treiben, die mit ihrer Ignoranz dieses Konzert torpedieren. Das tut die Band leider erst ganz am Ende, aber dann richtig; ein einziges großartiges weißes Rauschen…für diejenigen, die sich die Mühe machen, noch hinzuhören…
Judith und ich saßen noch lange auf den Sofas im K4. „Mantarochen fressen nur Plankton“, sagte sie. „Sie haben keine giftigen Stachel“, sagte sie. „Ich bin mit ihnen geschwommen“, sagte sie. Wir überlegten, wo Aldo sein könnte. Ich fand sein Notizbuch auf der Toilette. Als Judith und ich die Passagen lasen, schlug kurz eine Ahnung wie eine Welle gegen mein Bewusstsein. Der Grund dafür war vermutlich der letzte, kryptische Absatz von Aldo, der wie die Vorbereitung für einen geplanten Exodus klingt:
Austrofred, ein bisschen noch zumindest. Ich verstehe wenig und VERSTEHE noch viel weniger von dem, was er da spricht, singt und macht, der Austrofred, warum er das macht, und was zum Teufel ich damit anfangen soll, mit diesen dubiosen wienerischen Satzkaskaden, die im Schnellfeuer über altehrwürdige Bombast-Queen-Nummern gepeitscht werden; macht er sich etwa über mich lustig? Soll ich mich über ihn lustig machen? Oder gar beides? Laser, Lichter, glitzernde Kostüme, die Nacht ist zu weit vorangeschritten, um das ernsthaft zu erläutern, also verschwinde ich jetzt, im Kunstschnee des Austrofreds, der da aus dieser Kanone geschossen kommt, ich gleite über toilettenperlweiße Pisten, unter seifenblauen Himmeln jenem sonnenumfluteten Tal entgegen, dass da am Fuße des Berges gleißend leuchtet wie ein Bach im Frühling eines anderen Jahres, in dem noch nicht Winter ist, sondern ewiger Sommer, südfranzösischer Sommer, voller Wein und Lavendel, und einem Hauch von Thymian…
„Nbg.Pop war grandios“, sagte Judith, als wir uns heute zum Mittagsessen trafen. „So muss ein Festival sein. Gute Bands, gut organisiert. Das haben die Veranstalter richtig gut hingekriegt.“ Ich nickte kauend. „Hast du schon was von Aldo gehört?“, fragte sie. „Ich denke, er wird eine Postkarte schicken“, sagte ich. „Vielleicht ist er irgendwo am Meer“, sagte sie. „Du hast doch gesagt, dass er Quallen mag.“
Joshua Groß und Manuel Weißhaar