re<flex präsentiert eine Reportage vom Weinturm Open Air 2012, geschrieben von Joshua Groß und Manuel Weißhaar. Es war ungefähr so…
J. G.:
Wenige wissen, dass der Weinturmhügel bei Bad Windsheim ungefähr 368 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Seit 35 Jahren findet dort das Weinturm Open Air statt. Wir (zwei Redakteure, ein Fotograf) rollten in einem gelben VW-Bus über einige Autobahnen und Bundesstraßen, um eine Reportage über den Festival-Samstag abzuliefern. Dieses unauffällige Automobil suggerierte eindrucksvoll unsere journalistische Seriosität und unterwegs führten wir seltsame und erwartbare Gespräche (z.B. „Egal, wie ernüchternd sich 2012 gestaltet, wir haben zumindest angefangen, Bolaño zu lesen.“). Gegen Mittag passierten wir Pappeln, die etwas südliche Schwermut implizierten, während die Sonne sämtliche Monopole auf sichtbare Himmelsflächen hatte.
Vielleicht 2500 Menschen sind pro Tag auf dem Weinturm Open Air. Die Zelte sieht man schon aus der Ferne, verteilt über die Hügel, holprige Felder sind mit rot-weißen Plastikbändern als Parkplätze markiert. Wir schlurchten über einen Feldweg zum Festival-Gelände, das kleiner als erwartet ist: auf dem Kamm des Hügels, lang gezogen und sehr gemütlich. Mehrere Zelte voll Seidentücher, Trommeln, Wasserpfeifen, Federketten, Hängematten zum kostenlosen Probeliegen, auf der anderen Seite die üblichen Pizza- und Dönerbuden, Getränkeverkäufer und Merchandise-Stände. Vor der großen Bühne versammelte sich ein angenehmes Publikum: hippieske Mädchen mit Haarbändern, lässige Kerle mit Jutebeuteln, kleine Kinder mit Ohrenschützern, Familien, Althippies, Cowboys mit seltsamen Geliebten und entspannte Metal-Fans.
Die ersten Auftritte wurden eher als als Begleitprogramm wahrgenommen, gute Musik, allerdings wenig zwingend. Man saß im Rindenmulch, unterhielt sich oder hörte zu. Beides ging klar.
Um 16.15Uhr kam Käptn Peng mit den Tentakeln von Delphi auf die Bühne: Der Auftritt, auf den ich gewartet hatte.
Käptn Peng, der in Interviews sagt: „Für mich ist Kunst Spiegel, Boxsack, Kerker, Befreiung, Nahrung, Selbstmord, Kontemplation, Schlachtfeld und Sex in einem. Am besten aber funktioniert Kunst für mich als Katapult. Ich setze mich hinein und löse die Seile, um mich mit 800kmh Schleudergeschwindigkeit über die Burgmauern des inneren Königreiches in die Nacktheit des eigenen Ausdrucks zu befördern. Dies ist so spaßig wie schmerzvoll.“
In seinen Texten geht es meistens um Selbstbefreiung, Auflösung von Dualismen, es geht um Mut und Intuition als Kontrast zu Ängsten und Selbstbeschränkung: Ständig steht der Verstand im Dialog zu Emotionen, verhindert sie, es geht darum, Harmonie zwischen beiden zu finden. „Etwas ruft: Ausbruch, etwas ruft: Verweile!“. Und: „Realität ist nicht statisch, Realität wird erschaffen: Von mir und von dir und von uns und von allen“. Oder: „Wer Schlüsse zieht, kann das Licht nicht sehen“.
Solche Texte erwartet man heutzutage leider nicht von einer deutschen Rap-Crew, obwohl alles sehr logisch erscheint.* Man muss sagen, dass es diese inhaltliche Tiefe kombiniert mit dem hohen musikalischen Niveau im deutschen Hip Hop davor nicht gab. „Ich will nichts gegen Faktenwissen sagen, aber wir müssen uns erweitern und in andere Bereiche wagen“.
Dem Publikum stach die Sonne in den Nacken, Käptn Peng selbst performente mit roten Schultern und immenser Energie. Seine Musik ist zwar Aufruf ans Publikum, primär aber Selbst-Beschäftigung: Das ständige Streben nach Wahrhaftigkeit, das sich nichts einredet und bequem wird, sondern die Realität im ganzen Umfang annimmt. Bei „Sie mögen sich“ flossen Konzert und Theater ineinander und man war wieder vom unglaublichen Rhytmus-Gefühl des Käptn’s fasziniert. Unser Fotograf meinte zwar, es geht noch besser (immerhin hatte er Käptn Peng und die Tentakel von Delphi im Mai im Erlanger E-Werk gesehen), trotzdem war der Auftritt sehr gelungen: Selbstironie, Lässigkeit und Sympathie wurden vom Publikum angenommen und gefeiert. Man kann nur hoffen, dass Käptn Peng und seine Mitstreiter schon an einem Nachfolger zu ihrem Debut-Album „Die Zähmung der Hyrda“ arbeiten.
M.W.:
(Prelude)
Wir saßen später an der Flanke des Weinbergs im verblichenen Gras, die Blicke auf die afrikanische Graslandschaft gerichtet und das verglühende Orange der untergehenden Sonne auf unseren Gesichtern, tranken Bier (lediglich Radler, um die journalistische Seriosität zu wahren) und warteten.
(Part I)
Es war fast Nacht geworden, als wir schließlich zurück zur Hauptbühne trotteten, und Dan Mangan und Band schickten bereits einige sphärische Klänge in Richtung des weiten, sternenübersäten Himmels, wir hatten einige Mühe, im aufziehenden Dunkel denen auszuweichen, die augenscheinlich sternhagelvoll am Boden lagen und denen all die Sternschnuppen schnuppe zu sein schienen, die in Kaskaden vom Himmel regneten. Sie bildeten eine bedauernswerte Minderheit, natürlich. Hörten allenfalls im delirierenden Ethanol-Dämmerschlaf Echos von Dan Mangans Stimme, der Stimme des Geistes in der Whiskyflasche, desselben, der schon Marcus Mumford und Eddie Vedder durchdrungen zu haben scheint. Eine Stimme, die auf dieses Open-Air passte, genauso wie die Songs, die sie begleitete; Folksongs, Singer-Songwriter-Nummern, langsam und bedächtig, Herzlieder, Songs über das Altern in Würde, die Natur, die Liebe, die blaue Blume der Romantik, gesungen von einem bärtigen Kanadier im Karohemd (zumindest bin ich mir sicher, dass er eines trug) und soweit kannte man das alles schon, wartete auf das, was unweigerlich kommen musste: Harmoniegesänge, Wohlfühlbläser, ein Banjo oder zumindest eine Mandoline, aber nichts dergleichen geschah.
Stattdessen waren es immer wieder weitläufige Gitarrenflächen und die raunende Violine, die temporäre Mogwaiisierung der Songs, die Dan Mangan davor retteten, an diesem Abend lediglich als weiterer grundsolider Vertreter der Spezies „Naturverbundener melancholischer Bart“ wahrgenommen zu werden, die seit geraumer Zeit die Indiefolk-Szene okkupiert. Hübsch anzuhören war das über weite Strecken (einige Leute wippten, nickten kreditierend mit den Köpfen) manchmal etwas zu handzahm vielleicht (ein Betrunkener, der wohl tanzen wollte pöbelte, solche Musik könne man allenfalls am morgen hören), und ich sinnierte ein wenig darüber, ob die Länge des Bartes ein Gradmesser für gutes Songwriting ist, je länger der Bart desto besser, verwarf den Gedanken aber gleich wieder, weil Sam Beam von Iron & Wine zwar einen imposanten Bart haben mag, und eindeutig bessere Songs schreibt als Dan Mangan hier, Justin Vernon alias Bon Iver allerdings eher einen kurzen Bart spazieren trägt, obwohl er womöglich noch bessere Songs schreibt. Marcus Mumford hat dagegen überhaupt keinen Vollbart. Eddie Vedder schon. Die Theorie kollabierte geräuschlos und vielleicht war ihre Konzeption überhaupt erst der zwischenzeitlich etwas abflachenden Intensität des Konzerts geschuldet. Aber Dan Mangan zog noch einmal an, gegen Ende die Mitsingnummer, hier in Form eines Songs über Roboterliebe: „Robots need love too, they want to be loved by you, they want to be loved by you“, sang Mangan und mit ihm die Menge, immer wieder. „Ah, Pathos“, murmelt Reporterkollege J., wie er da auf dem Boden saß (um einem latent drohenden Hexenschuss vorzubeugen) zu mir hinauf. „Kann man so akzeptieren.“ Von irgendwo wehte der Geruch von Gras herüber, die Sternschnuppen gaben keine Ruhe.
(Interlude)
Hippies schliefen in Schlafsäcken. Jemand stolperte über einen Betrunkenen (keine Reaktion seitens des Betroffenen). Der Moderator kündigte die Kilians als Ersatz für Friska Viljor an. In Schweden schrie das dafür verantwortliche neugeborene Kind des Friska Viljor-Sängers oder auch nicht.
(Part II)
Kilians-Chef Simon den Hartog war mieslaunig, ein bisschen zumindest. Er sprach wenig und davon noch weniger nettes, während seine Band durch ihr Set hetzte; tight ja, auf den Punkt, ja, aber den Hartog bemühte sich nicht einmal zu verbergen, dass ihm etwas nicht passte. Womöglich mochte er den Moderatoren nicht, der zuvor wortreich sein Bedauern kundgetan hatte, dass Friska Viljor an diesem Abend nicht hier sein können, aber darüber hinaus nicht würdigte, immerhin die einzige deutsche Indierock-Kapelle, die kein bisschen deutsch klingt, als Ersatz bekommen zu haben. Ich dachte kurz darüber nach, wie das so war, damals (in einem anderen Popjahrzehnt, also vor ein paar Jahren) in der elften Klasse, auf einem Gymnasium in der Provinz; als ich in meinem Zimmer saß, The Strokes, Franz Ferdinand, The Libertines hörte, auf meiner Gitarre schrammte und mir wünschte, Teil einer Indie-Rock’n’Roll-Band zu sein – und ernüchtert feststellen musste, dass niemand um mich herum diesen Wunsch teilte, nur Nirvana-Songs covern oder wie System of a Down klingen wollte.
Und irgendwann, während ich weiterhin stoisch versuchte, Nick Valensis Gitarrenspiel zu imitieren, traten die Kilians aus Dinslaken auf den Plan; auch so einem Kaff im Nirgendwo, eine ehemalige Schülerband, und sie klangen genau wie eine der Bands, deren Mitglied ich immer sein wollte, eine lässige Mischung aus den Strokes und Britpop-Versatzstücken, präzise und eingängig, tight und ohne Bauchansatz – Simon den Hartogs Stimme war eher New York als nordrhein-westfälische Provinz und das Riff von Fight The Start besser als das gesamte dritte Strokes-Album. Das war 2007, als der Vormarsch des die 00er beherrschenden britisch-amerikanischen Indierock-Regiments schon langsam ins Stocken kam, und heute, 2012, wo seine Mitglieder tot im Staub liegen oder allenfalls zombifiziert durch die Gegend wanken, kehren die Kilians nach längerer Pause also mit ihrem dritten Album zurück. Sie hatten nichts verlernt, in den Jahren ihrer Abwesenheit, der Sound klang vielleicht nicht mehr so frisch wie früher, aber auch nicht so verwest, wie man das hätte befürchten können; für die patzige Dünnhäutigkeit, die Simon den Hartog an diesem Abend spazieren führte, war er jedenfalls nicht verantwortlich. „Ein paranoider Typ“ raunte J. mir zu, während der Frontman ein wenig verächtlich Scooter-Referenzen und Schlagereinsprengsel in die Kilians-Songs einbaute, als hätte er es hier in der fränkischen Provinz mit bierseligen Musiklegasthenikern zu tun, die gerne herumbrüllten und abgehen wollten, aber für Indierock Marke Kilians nicht empfänglich waren.
„Das Publikum hier muss ihn an die Anfänge in seinem Kaff erinnern, vermutlich wollten damals alle im Jugendclub lieber die ortsbekannte Metalband hören, anstatt seine eigene“ flüsterte ich zurück, nachdem den Hartog mit galligem Unterton ein „Ihr wollt mehr von den Kilians? Hurra, da sind sie schon!“ ins Mikrofon geraunzt hatte. „Da scheint irgendein Trauma vorzuliegen.“ „Ganz klar ein paranoider Typ“ wiederholte J. und setzte sich wieder, um den Hexenschuss nicht zu provozieren. „Zum Teufel damit“, dachte ich, und begann dezent zu tanzen.
J.G.:
Es passierte noch viel mehr am Weinturm Open Air (z.B. fraß ein schamloser Hund subversiv und uneingeladen den von mir gemachten Nudelsalat). Man kann hier nicht alles aufschreiben. Aber es lohnt sich, im August nach Bad Windsheim zu fahren und das Weinturm Open Air zu besuchen. Wir werden nächstes Jahr wieder kommen. Und ich denke, es ist noch Platz für einen letzten Absatz.
Irgendwann nachts schauten wir alle in den Himmel, in dem mindestens fünf Sternschnuppen pro Minute implodierten. Ich versuchte, mir nichts zu wünschen. Der Weinturmhügel ist so abseits von größeren Städten, dass die Luftverschmutzung gering ist. Der Himmel war weit, man konnte die ganzen 180 Grad betrachten, die Milchstraße erahnen, Sterne, die man in der Stadt nie sehen wird, beinahe plastisch wölbte sich der riesige Himmel über uns auf. Man kann sich fragen, warum ich eine so kitschige Passage schreibe. Sie ist nur eine Einleitung für das Ende dieser Reportage, das wesentlich kitschiger ist. Ich sagte nämlich einen Satz, der im Moment unglaublich angebracht war und diesen Artikel abschließen wird. Ich sagte: „Jetzt weiß ich, warum man Himmelszelt sagt.“
Text: Joshua Groß & Manuel Weißhaar
Bilder: Hendrik Suhl
* Schon allein die notwendige Auseinandersetzung mit der Sprache als solcher: einerseits ein notwendiges, konstitutives Element der Verständigung und des Verstehens, trotzdem im Wissen, dass eigentliches Verstehen (was man nicht mehr so nennen kann) in der Überwindung der Sprache passiert. Ich musste beim Konzert an einen Absatz von Chögyam Trungpa denken, den ich zuhause nachschlug:
„Tatsächlich erkennen wir die Dinge nicht vollkommen so, wie sie sind. Im Allgemeinen nehmen wir etwas wahr und sehen dann genauer hin. In diesem Fall bedeutet Nachschauen die Handlung, den Dingen Namen und gedankliche Assoziationen aufzubürden. Die Dinge zu erkennen bedeutet, sie als das wahrzunehmen, was sie sind.“