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Samstagabend, 19 Uhr, Nürnberg, Austraße 70: Laute Musik, helle Lichter, zwei Jungs, die sich völlig auspowern, während sie zur Musik tanzen. Hier kommt besagtes Stroboskop zum Einsatz, vor dem an der Kasse gewarnt wird und macht aus der Bühne eine Tanzfläche. Wir sehen Maik und Tschick, die ordentlich abfeiern, so wie es sich für zwei Vierzehnjährige gehört, wenn die heiß ersehnten Sommerferien endlich starten. Doch die Darsteller Boris Keil (Tschick) und sein Kollege David Schirmer (Maik) zeigen uns lediglich, wie es hätte sein sollen. Tatsächlich hat die Geschichte um den Russen Tschick, der in verschiedenen Heimen aufgewachsen ist und mit Alkoholfahne, Plastiktüte und in Jogginghosen in die selbe Klasse geht, wie der Außenseiter Maik Klingenberg aus gutem Elternhaus, anders angefangen.
Wie alles wirklich begann, erzählt das Stück unter der Regie von Thomas Stang sehr unterhaltsam, anschaulich und vor allem unkonventionell. Das Bühnenbild besteht aus einer Handvoll Holzkisten mit der Aufschrift „Fragile“, die vom Germanischen Nationalmuseum ge- stiftet wurden. Das Ensemble, das eigentlich annähernd zehn Schauspieler beinhalten müsste, besteht aus drei Männern, die man live bewundern kann und zwei Frauen, die in kurzen Filmausschnitten zu Wort kommen. Zugegeben, eine ungewöhnliche Strategie, doch gerade wenn zum Rollenwechsel lediglich ein winziges Requisit nötig ist, wird das Talent der jungen Schauspieler, vor allem David Schirmers, der im Lauf der Aufführung in vier verschiedene Rollen schlüpft, besonders deutlich.
Die Bühnenfassung „Tschick“ von Robert Koall nach dem gleichnamigen Roman Wolfgang Herrndorfs ist dynamisch und authentisch, gleicht sich dem Wesen der Hauptdarsteller an. Beide sind in Bewegung, verschieben je nach Umgebung die Holzkisten zu unterschiedlichen Kulissen, schwitzen unter dem Scheinwerferlicht und der Rastlosigkeit, die die schlichte Ausstattung mit sich bringt. Schirmer und Keil stellen mit der Umordnung der Kisten immer wieder unterschiedliche Umgebungen und Perspektiven dar, beispielsweise den Blick von oben auf den geklauten Lada, der mit den beiden Vierzehnjährigen mit Tempo dreißig irgendwo durch die Prärie von Berlin poltert. Auf die rechts und links davon platzierten kleineren Kisten, wird der Film einer vorbeifahrenden Landschaft projiziert, im Hintergrund begleitet von wunderbaren Akkordeonklängen Vadim Samarskys, die an „Die fabelhafte Welt der Amélie“ erinnern. Wenn in solchen Momenten schließlich noch die Originaltexte aus dem Roman gesprochen werden, sind Atmosphäre und Stimmigkeit vollkommen.
Doch nicht nur die Schauspieler und die ausgeklügelte Kisten-Choreographie, sondern auch andere Effekte machen das Stück so besonders. Gekonnt hat Koall eine Strategie entwickelt, um die Zuschauer zu verwirren: Er hat sich Passagen aus dem Roman herausgepickt, in denen eine Interaktion unter den Protagonisten stattfindet. Doch statt sie genauso auf die Bühne zu bringen, werden die Gesprächsteilnehmer kurzerhand durch das Publikum ersetzt. An einer Stelle wird das besonders deutlich, wenn man als Zuschauer das Gefühl hat, Teil der Aufführung und etwas ganz Besonderen zu sein. Im Jugendroman sind die beiden Jungen in Begleitung von Isa, einer Reisebekanntschaft, auf einen Berg geklettert, als Maik durch die Atmosphäre plötzlich sentimental wird. Im Gostner Hoftheater dagegen geht etwas Seltsames vor: Der Raum wird dunkel, nur die Neonröhren im Mittelgang zwischen der rechten und linken Seite leuchten schwach, Schirmer und Keil richten den Blick auf die Menge. Scheinbar schlüpft Schirmer für einen kurzen Moment aus der Rolle und lässt seinen Gefühlen freien Lauf. Er müsse einfach loswerden, wie schön es sei, genau an dem Ort, zu dieser Zeit, mit diesen Leuten zusammen zu sein. Am Ende seines positiven Gefühlsausbruchs wird, unter der zaghaften Zustimmung der Besucher die gleiche Vereinbarung getroffen, wie schriftlich zwischen den beiden Jungen und ihrer weiblichen Begleitung: Sie alle wollen sich in 50 Jahren am selben Ort zur selben Zeit treffen, egal, was bis dahin passiert. Schon ist der falsche Verfremdungseffekt perfekt.
Kennt man Herrndorfs Roman nicht, ist man unbeirrbar der Meinung, an den betreffenden Stellen sei die vierte Wand durchbrochen worden. Tatsächlich aber nimmt der Zuschauer die Rolle der angesprochenen Personen ein. Hier ist großes Können am Werk, denn die Illusion wird unmerklich durch Beleuchtung, aber auch Präsenz und Glaubwürdigkeit der Darsteller eingetrichtert. Ihr vermeintliches Manko, den kleinen Vorführraum, kehren die Verantwortlichen zum Vorteil und bescheren dem Zuschauer eine ganz neue Theatererfahrung. Der vorhandene Platz wird optimal ausgenutzt, die Nähe zum Publikum auch inhaltlich mit einbezogen. Unverhoffter Weise wird man zum Klassenkameraden, der auf Russisch etwas Unverständliches zugemurmelt bekommt oder man möchte sich wegen der Besonderheit des Moments und der Aufrichtigkeit der Darsteller tatsächlich einen Termin in 50 Jahren vormerken.
Einziger Wermutstropfen: Die volle Wirkung dieser Performance entfaltet sich erst ganz, wenn man das Buch kennt. Außerdem wird in der einzigen romantischen Szene, die Maik auf seiner Reise erleben darf, der Sinn verfälscht: Im Roman kommt er der gleichaltrigen Isa näher, die fragt, ob er schon sexuelle Erfahrungen gemacht hat und Interesse an ihm zeigt. Im Stück sieht man die Aussage Isas in Form einer Aufzeichnung erneut auf eine Kiste geworfen, doch hier gespielt von der 35-jährigen Katrin Griesser. Obwohl die österreichische Schauspielerin bereits Erfolge feiern konnte, wäre eine jüngere Besetzung trotz geringerer Bekanntheit glaubwürdiger gewesen. Statt der Darstellung einer vorsichtigen Annäherung zweier Pubertierender, bekommt dieser Ausschnitt auf der Bühne den Beigeschmack von versuchter Verführung und sexueller Belästigung eines Minderjährigen. Doch das verzeiht man dem Stück aufgrund seiner Stärken gerne.
Leider sind die Termine schon vorbei, doch aufgrund der großen Nachfrage wird die Aufführung vom 06-09.03.2013 wieder aufgenommen. Ein Besuch lohnt sich, doch man sollte sich am besten jetzt schon Tickets reservieren, die letzten Termine waren restlos ausverkauft – und das ist immer noch die aussagekräftigste Kritik…
Christina Tittus