Christian Kracht, enfant terrible der deutschen Literatur, gelang 2012 nicht nur das zweifelhafte Kunststück, mit einem Buch, welches Anfang des 20. Jahrhunderts im Pazifik spielt, eine Nazi-Debatte heraufbeschworen zu haben, sondern auch die ungleich größere Leistung, mit der Geschichte um den Kokovoren Augustus Engelhardt den klassischen Abenteuerroman im Stile Herman Melvilles wieder zurück auf das literarische Tapet gebracht zu haben. Simon Schwarz wagt sich in seinem Zweitling „Packeis“ in Comicform an ein vergleichbares Vorhaben: Die frei bearbeitete, abenteuerliche Lebensgeschichte einer historisch verbürgten Figur als bewegendes, mit leichter Hand erzähltes Drama um Ruhm, Anerkennung und Größenwahn. Und wo das Erstaunen über Krachts kuriose Hauptfigur schon groß genug war, verhält es sich bei Simon Schwartz ganz ähnlich: Denn Matthew Henson, der Protagonist von „Packeis“, war der mutmaßlich erste Mensch, der den Nordpol je erreicht hat, oder ihm zumindest sehr nahe gekommen ist. Sein Name ist heute indes kaum jemandem ein Begriff. Wieso das so ist? Weil Matthew Henson schwarz war.
Die Geschichte dieses Mannes ist es nun, die Simon Schwartz erzählt. Schon als kleiner Junge heuert Henson nach dem Tod seiner Eltern an Bord der Katie Hines unter dem Kommando des ihm wohlwollend gegenüberstehenden Kapitän Childs an, der dem jungen Henson zur Vaterfigur wird und mit dem er die Weltmeere bereist. Bis zu seinem Tod einige Jahre später lehrt ihn sein Mentor wichtige Lektionen, unter anderem, Ignoranz und Hass, die Schwarzen entgegenschlägt, mit Intelligenz, Demut und Wissen zu begegnen, gleichwohl er schon relativierend vorwegnimmt: Trotz allem musst du wissen, Matt, es gibt Dinge, die werden sich leider nie ändern. Einige Jahre später tritt Henson in den Dienst des Marineingenieurs und Forschers Robert Peary und begleitet ihn 1887 nach Nicaragua, wo er von diesem nach anfänglicher Abneigung ob seiner Tüchtigkeit geschätzt wird. In Nicaragua lernt Henson auch den sympathischen Doktor und Abenteurer Frederic Cook kennen, der angeblich als erster Mensch den Mount McKinley bestiegen hat und gemeinsam nehmen die drei Männer eine neue Herausforderung an, die sie nicht nur beinahe das Leben, sondern am Ende auch die Freundschaft kostet: Die Eroberung des Nordpols, den noch kein Mensch zuvor erreicht hat.
In der Folge schildert Schwartz die verschiedenen Polarexpeditionen unter der Leitung Pearys, die von Rückschlägen geprägt sind und immer wieder das diffizile Verhältnis zwischen dem eitlen Forscher Peary und seinem Assistenten Henson, welches zwischen gegenseitigem Respekt und Ablehnung Pearys aufgrund Hensons Hautfarbe und geringer Herkunft schwankt. Henson erweist sich dabei als geschickt im Umgang mit Schlittenhunden, lernt die Sprache der Inuit und wird von diesen bewundert, kann aber den skrupellosen Umgang des vom Misserfolg frustrierten Peary mit den Inuit nicht verhindern. Wieder zurück in den USA sieht sich Henson gezwungen, Gelegenheitsjobs anzunehmen, während er darauf wartet, zu neuen Expeditionen aufbrechen zu können. Ein Muster, dass sich auch nach dem großen Triumph und dem letztendlichen Erreichen des Pols wiederholen wird: Während andere den Ruhm ernten, muss sich Henson damit herumschlagen, Obstkisten zu schleppen.
Schwartz hantiert in „Packeis“ mit einem weiten inhaltlichen Spektrum: Seine Geschichte ist eine historisch weitestgehend akkurate Rekonstruktion der verschiedenen Polarexpeditionen Pearys; beschreibt dabei Hensons Verzweiflung ob der rassistischen Ungerechtigkeiten des Kolonialzeitalters und sein Ringen nach Anerkennung ebenso wie das schändliche Verhalten der Expedition gegenüber den Inuit, die bestohlen und verschleppt werden und schließlich ihr Leben lassen müssen. Selbst der dramatische Antiklimax, in welchem sich Peary und Cook vor den Augen der Weltöffentlichkeit eine Schlammschlacht darum liefern, wer den Pol zuerst erreicht hat, indes der eigentliche Protagonist in Armut und Bedeutungslosigkeit versinkt, wird breit thematisiert. Und verlieben darf sich Henson selbstverständlich auch noch.
Dass das Werk, immerhin als Bildmedium konzipiert, unter dieser inhaltlichen Fülle nicht zusammenbricht, liegt an der simplen, aber scharfen und effektiven Charakterzeichnung der Protagonisten, welche die große Tragik der Geschichte für den Leser greifbar werden lässt und der virtuosen Komposition der Handlung. Denn „Packeis“ ist keinesfalls chronologisch, sondern wird zu Beginn als mythologisch aufgeladene Legende der Inuit erzählt, ehe man den alten Matthew Henson trifft, der als Putzmann durch die Flure des New Yorker Museums streift und sich anhand der Exponate an seine früheren, abenteuerlichen Jahre erinnert. Die gelungene Optik ist dabei in klaren Linien und dem Sujet entsprechend in eisigen Blau, Schwarz, Weiß und Grautönen gehalten und harmoniert hervorragend mit der Erzählung, so dass man bisweilen glaubt, das Pfeifen des arktischen Windes beim Lesen zu vernehmen.
Bleibt hinzuzufügen, dass Simon Schwartz ein großartiges Werk gelungen ist, das mit Sicherheit zum Besten gehört, was die deutsche Comicszene in den letzten Jahren hervorgebracht hat – und einmal mehr jene Leute Lügen straft, die behaupten, bei Comics würde es sich nur um eine triviale Kunstform ohne gehobenen Anspruch handeln. Absolut und uneingeschränkt empfehlenswert.
Simon Schwartz: Packeis
avant-verlag (ISBN: 978-3-939080-52-7)
19,95 Euro
Manuel Weißhaar