Warum bist du ein Faschist geworden ?


Unverdient: Wenige Zuschauer bei der Vorführung von Russia 88 auf dem Weekend of Fear 2012

Es waren wohl die widrigen Umstände, aufgrund der sich die Zuschauer bei der Vorführung von Russia 88 am vergangenen Samstag (19.05.12)  an zwei Händen abzählen ließen: die Vorführung fand sehr spät nachts beziehungsweise früh morgens um 3:15 Uhr statt, die Konkurrenz war mit dem zeitgleich gezeigten norwegischen Thriller Hora durchaus stark, und nicht zuletzt schreckte wohl das ernste Thema des Films viele der eher auf Unterhaltung hoffenden Besucher des 16. Weekend Of Fear-Festivals ab. Denn Pavel Bardins Erstling aus dem Jahr 2009, der in jenem Jahr bereits auf der Berlinale lief, ist kein schöner Film. Man sollte ihn trotzdem gesehen haben.

Durch die seit The Blair Witch Project bekannte wackelige Handkamera taucht man ein in die düstere Welt der russischen Neonazis. Dankenswerterweiße erhebt die Kameraführung hierbei nicht ständig den selbstreflexiven Zeigefinger, sondern bleibt erfreulich unaufdringlich; nur jene Szenen, in denen es inhaltlich um die Kamera geht, werden auch formal thematisiert. Der Schnitt des Films erweckt den Eindruck von sogenannter found footage, unbearbeitetem Rohmaterial von Filmemachern, was den dokumentarischen Eindruck stärkt.

Der mutmaßliche Dokumentarfilmer Abraham (Mikhail Polyakov) ist dabei selbst ein eher passives Mitglied der titelgebenden Neonazigang Russia 88, deren Alltag gezeigt wird. Dieser besteht angesichts der in tristen Grau- und Brauntönen gehaltenen Filmkulisse Moskau vor allem darin, sich die Zeit zu vertreiben mit Jagden auf Migranten, Besäufnissen, Training als urbane Schlägertruppe und, nicht zuletzt, der Produktion eines Propagandafilms namens Russia 88. Speziell für dieses Machwerk gedrehte Szenen sind immer wieder in den Film eingestreut, und eigentlich könnte ihre stümperhafte Art und der Blick hinter die Kulissen ihrer Produktion komisch sein. Durch den ernsten Grundton des Films bleibt dem Zuschauer aber das Lachen im Halse stecken, selbst wenn ein mehr schlecht als recht wie eine alte Frau gekleideter Neonazi zwei weitere, als Migranten maskierte Gangmitglieder mit einem Baseballschläger verfolgt. Der omnipräsente Rassismus verhindert jegliche Komik.

Der Hauptdarsteller des Films ist in jeder Hinsicht Alexander (Petr Fedorov), auch Sasha oder Blade genannt, Sohn liberaler Eltern, Anfang Zwanzig, großer Bruder von Julia (Vera Strokova), die seinen Faschismus lächerlich findet. Doch Julia liebt Robert (Kazbek Kibizov), einen Tadjiken, und so nimmt das Unglück seinen Lauf. Bis zum unvermeidlich tragischen Ende hin zieht Regisseur Bardin alle metaphorischen Register zur Demaskierung der Neonazis: Dem tristen, leeren Moskau stellt er das farben- und lebensfrohe Migrantenviertel gegenüber, er lässt den ziellosen Blade von seiner Tante ob seiner Nichtznutzigkeit beschimpfen, und immer wieder stellt Kameraman Abraham die selbe Frage: Warum bist du ein Faschist geworden? – ohne je eine vernünftige Antwort zu erhalten. Besonders in den Fokus rückt dabei die Schizophrenie des Nationalismus: Die geschichtsvergessenen Neonazis werfen mit deutschen Zitaten um sich und tolerieren (meistens) den Halbjuden Abraham. Sie propagieren Ordnung, Arbeit und Sauberkeit – Blade singt gar „Ich bin ein ehrlicher Arbeiter, ich bezahle meine Steuern“ – während sie sich betrinken, Drogen nehmen und die Marktstände der arbeitenden Migranten verwüsten. Blade will seine Schwester Julia vor Robert schützen, aber er und die Gang fallen bei seiner Geburtstagsfeier über die anwesenden Frauen her; die Aufzählung ließe sich problemlos fortsetzen.

Die wahrhaft schockierende Wirkung von Russia 88 entfaltet sich aber dadurch, dass der neue Nationalismus als tief in der russischen Gesellschaft verwurzeltes Phänomen erscheint: Die Miliz (die russische Polizei, vertreten durch Petr Barancheev) toleriert bis untersützt die Umtriebe der jungen Neonazis und bildet ihrerseits die Brücke zum organisierten Nationalismus. Ein Funktionär (Andrey Merzlikin) bietet Blade und seiner Gang sogar quasi-legalen Status als Teil eine SA-artige Schlägertruppe an und lässt die Unterstüzung mächtiger Politiker und Konzerne durchblicken. Das Erschreckendste ist aber die Tatsache, dass die im Mittelteil des Films von Blade für Russia 88 geführten Interviews real sind. In diesen befragt er Moskauer Bürger nach ihrer Haltung zum Slogan „Russland den Russen“ und erntet zu oft Zustimmung, als das es unbedenklich wäre. Als Abspann folgt die traurige Bilanz dieser Umstände: eine Liste der Opfer nationalistischer Gewalt, die alleine in Moskau im Jahre 2008 mehr als 120 Todesopfer gefordert hat. Totenstille im Kinosaal. Realer Horror.

                                                                                                                                         

                                                                                                                                              Manfred Weiß

Russia 88 (Russland 2009) Regie: Pavel Bardin Darsteller: Petr Fedorov, Mikhail Polyakov, Vera Strokova, Kazbek Kibizov, Petr Barancheev, Andrey Merzlikin

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