Das Bild schwankt

Das Bild schwankt…

„Hüzün“, ein Tanztheaterstück von Kadir Memis alias „Amigo“ in der Tafelhalle Nürnberg

„Tanzen ist wie Singen mit dem Körper“. Bei Kadir Memis wird der Tanz zum Ausdrucksmittel eines Tones, einer Stimme: der Melancholie. „Hüzün“ beschreibt das Dazwischenstehen und den Umgang mit dem Gefühl, nicht zu wissen, wo man als Mensch zwischen Kulturen situiert ist. Das Stück zeigt das Suchen einer Mitte, die an Hand der Thematik einer deutsch-türkischen Kultur gezeigt wird, aber auch, wie Memis betont, das allgemeine Suchen von Menschen nach einer festen Stellung in der Gesellschaft beschreibt. Deren wichtigstes Thema sollte eigentlich das Fragen an sich, das stetige Reflektieren darstellen. Der Choreograph Memis, genannt „ Amigo“, zeichnet ein Bild der Interkulturalität, das in einer positiven, sich selbst hinterfragenden Form bestehen kann und durchaus nicht ein Begriff sein muss, der Kontroversen bezeichnet. Allgemein lässt sich sagen, das „Hüzün“ einen Kampf gegen Vorurteile von außen, aber auch gegen sich selbst aufzeigt, die durch eine konsequente Auseinandersetzung durchaus gelöst werden können. Der Kulturmix spiegelt sich dabei in allerlei Form auf der Bühne wider und schafft Neues, auf der Grundlage vom Bewährtem, ein allgemein übertragbares Konzept. Die Musik des Stückes ist eine Mischung aus traditionellen, orientalischen Klängen, rhythmische Electrobeats und aussagekräftigem Deutschrap. Dabei entsteht ein harmonisches Ineinanderfließen von kulturell verschiedenen Einflüssen, das sich dann im Tanz fortsetzt. Die Bewegung an sich und die Tänzer in ihrer unterschiedlichen Herkunft, verstärken noch dazu den Eindruck einer harmonischen Vereinigung von Kultur. Der Tanz in „Hüzün“ ist ein Zusammenspiel aus zeitgenössischem Modern Dance, Hip-Hop und Breakdance, sowie Elementen des Bauchtanzes. Diese Kombination bildet ein spannendes und teilweise sogar atemberaubendes Bühnenprogramm. Es betont zum einen die individuellen Merkmale der einzelnen Tanzformen, drückt aber auch im Zusammenspiel aller verschiedenen Elemente eine solche Harmonie aus, wodurch man sich mit der Frage konfrontiert sieht: wenn es auf der Bühne funktioniert, wie ist es dann in der Realität?

Die Bühnensprache des Stücks ist Deutsch und Türkisch, die nur teilweise übersetzt, aber durch den Körper als Sprachmedium dennoch verständlich wird. Der Tanz wird zum universellen Kommunikationsmittel und zeigt, dass wir uns in unserer Gesellschaft immer verständigen könnten, wenn wir nur tiefer blicken. Ein Thema, das Amigo in den Vordergrund stellt, ist die „Mannwerdung“ in einer patriarchalischen Gesellschaft, was aber, wie der Choreograph betont, auch als allgemeine Auseinandersetzung mit dem Erwachsenwerden verstanden werden kann. Das Bild des Teigknetens wird hier zur Metapher der Formung, die sanft, aber auch aggressiv sein kann.

Man steht als Mensch stets unter dem Einfluss anderer und muss „ Posen“, im Stück Posituren der Männlichkeit, annehmen, ob man will oder nicht. Der Kampf mit dieser Prägung wird in einer tänzerischen Begegnung von Personen allen Alters dargestellt und deren Konsequenzen im Umgang mit anderen. Formung ist gut, hat aber auch ihre Grenzen und letztlich steht die eigene Entscheidung im Vordergrund.

Der rote Faden, der „Hüzün“ durchzieht, ist allerdings das Demontieren von Klischees und Vorurteilen aus Sicht mehrerer Kulturen. Memis hinterfragt tänzerisch die Missachtung der Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft, die hier nun ihre sonst versteckte Körperlichkeit äußern und unterläuft weitere Streitpunkte beim Aufeinandertreffen von Kulturen. Beispielsweise wird das Thema der „Gangs“ in unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Diese Gruppierungen verbreiten Gewalt, entstehen aber auch aus ihr, wie „Hüzün“ zeigt. Alles ist nur ein stark machen, weil man vorher klein gemacht worden ist. In dem ein Darsteller „seine“ Lebensgeschichte erzählt, wird deutlich, wie Aggressionen, egal ob verbal oder körperlich, Menschen prägen können und in einer Kette der Gewalt voranschreiten.

Durch eine Videoinstallation am Anfang und am Ende des Stücks, werden Interviews mit Männern und Frauen gezeigt, die Vorurteilen gegen Geschlechterrollen äußern. Ihre Aussagen demontieren sich letztlich. Die Klischees haben in Kadir Memis Tanztheaterstück keinen Bestand.

Am Ende steht das Bühnenbild von „Hüzün“ schief und man fragt sich, ob unser Weltbild nicht mit wankt.

Johanna Stuber

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