XI. Benedikt XVI liest Ratzinger ’69

Wobei er das gar nicht gern hat, wenn wir uns über seine Bücher hermachen. Dabei riechen die doch so herrlich! Besonders die alten, die er noch unter eigenem Namen herausgegeben hat, ohne K. wie Kardinal und ohne Stempel des Heiligen Offiziums. Am liebsten ist mir ein Buch von 1969, ‚Das neue Volk Gottes‘. Der Einband ist so abgewetzt wie eine ausgewaschene Jeans, die Seiten sind so geschmeidig wie Samt. Kein Mensch könnte sich damit in den Finger schneiden.

Ein vergilbter Zeitungsausschnitt von der ersten Mondlandung liegt darin. Zum Mond fliegen und zurück, wie habt ihr das damals bloß geschafft? Ohne Handy und Laptop könnt ihr doch heute kein Familienfest mehr abhalten, geschweige denn etwas größeres. Dann gibt es noch ein anderes, ein blaues Buch, das ähnlich anziehend wirkt, und während ich darin blättere, habe ich gar nicht bemerkt, wie er ins Zimmer an den Schreibtisch kam. „Geh weg da, Tobias. Weg von dem Buch!“ Etwas unwirsch hat er mich vom Tisch verscheucht, weil er seine Brille nicht aufhatte. Die nimmt er in die Hand und im selben Atemzug beruhigt er sich und findet sein Lächeln. Ich habe es für ihn aufgehoben. Andere sind im Fußballstadion in ihrem Element, der Ratzinger an seinem Schreibtisch, wo er auch steht und geht.

„Wenigstens einen Überblick verschaffen for dem Essen“, murmelte er, und „Tobias, dann ist Feierabend.“ Merkwürdig, kaum war er Papst und durfte endlich tun, was ihm jahrzehntlang verboten war, nämlich schreiben, landet er auf den Bestsellerlisten. Dass in der Welt auch Bücher verrissen werden, schreckt ihn nicht. Sein Buch über Jesus von Nazareth erschreckt auch niemand. Aber merkwürdigerweise scheinen ihm seine eigenen alten Bücher nicht mehr ganz geheuer. Er betrachtet das rote Buch, holt das blaue aus der Kiste und blättert und las in beiden, mal aus diesem, mal in jenem. Da habe ich Sara angestupst und ihr zugeraunt, sie soll aufpassen und sich merken, was er vorliest, damit sie es nachher wieder findet.

Er hat sich an den Schreibtisch und umständlich mit einer Hand die Brille aufgesetzt und liest vor, dass Kirche nicht wie irgendein Apparat uns gegenübersteht, sondern in uns selber lebendig ist. … Wir selber sind die Kirche; sie ist mehr als Organisation, sie ist Organismus des Heiligen Geistes, (und wofür ich viel Verständnis habe, denn er hat mich dabei liebevoll gestreichelt) etwas Lebendiges, das uns alle von innen her umgreift.

Und dass wir alle im Glauben sie lebendig mittragen, wie sie uns trägt. Dabei schnurre ich nach Kräften, denn wie er uns behandelt, sind wir auch zu ihm.

„Ja, was ist das?“ rief er. „Das muss doch vom Professor Küng sein! Ein Kuckucksei! Wer hat denn das eingepackt?“ Er schaut mich über die Brille hinweg an, streng aber grinsend, schaut das Buch an, dreht das Buch um, liest den kleingedruckten Rücken – Joseph Ratzinger, Kirche Ökumene und Politik – „Kein Zweifel, das muss von uns sein. Tobias, wie bist du darauf gekommen?“ Zuerst habe ich Sara angeschaut, die sich wie unbeteiligt auf dem Sofa kuschelte, etwas habe ich geschnurrt, weil er mir das samtige Buch weggenommen hat, aber eigentlich sollte er das ja auch, ich war so gespannt wie ein Katzenbuckel was er noch damit macht. Er liest weiter, sehr gut. Keiner kann sagen: ich bin die Kirche; jeder muss und darf sagen: wir sind die Kirche.

Er schweigt und blättert. Das wäre eigentlich unsere Aufgabe, doch er ist so vertieft, dass er seinen Verband als Buchstütze benutzt. Aus dem Fenster blickend auf die immergrüne Hecke, fängt er etwas zu sinnieren an. „Wenn die wüssten, dass das von mir ist. Nicht ‚Wir sind Papst‘ und auch nicht ‚Mir san mir“, nein: wir alle sind die Kirche, ganz einfach und gemeinsam.“ Recht zur Kritik, liest er, nur für sich selbst, die aber doch immer und zuerst Selbstkritik sein muss. „Jawohl, so soll es sein, ein jeder kehre vor seiner Tür.“ Manchmal sind wir nur dafür da, dass niemand meint, er führe Selbstgespräche. Sara räkelt sich, als habe er sie aufgeweckt. Dann ist er aufgestanden und deklamierte, mit dem Buch in der Hand durchs Zimmer wandelnd, Kirche – wiederholen wir es, ist ja nicht irgendwo, jemand anders: Wir selber sind sie. „Das wären dann alle, die verlorenen Schafe genauso wie die neugierigen und die treuen in der Herde. Nur die Sündenböcke sind immer die anderen.“ Wer nämlich sich nur an den Formen der Väterkirche festklammern will, der verbannt Christus ins Gestern. „Ja, wir heute sind damit gemeint.“ Wir sind die Kirche. liest er vor, und weiter Kirche ist ja nicht irgendwo, jemand anders: Wir selber sind sie. Wir zwei Katzen verhindern oft, dass er im pluralis maiestatis mit „wir“ sich selber meint. Wer damit gemeint ist, hat er schon mal aufgeschrieben, liest aber weiter seine eigenen Worte wie einen fremden Text. Denn es stellt sich dabei die Frage, wie es um das Christsein der nichtkatholischen Christen bestellt sei. „Schau an, Tobias, darüber haben wir uns damals schon Gedanken gemacht. Natürlich alle die beim Konzil waren. Siehst du, da ist die Lösung“ ich schaute ihn nur fragend an, jede Nähe verweigernd. „Wer gehört zu dem Wort „wir“, wer gehört zur Kirche mit dazu?“ Mit seinem Gips tappte er auf der Seite herum, konnte nicht weiterblättern und las weiter vor, einige Worte murmelnd wonach das Zauberwort Communio besagt, dass der wesentliche Inhalt des Christseins das Kommunizieren im Leib des Herrn ist. Wenn aber Kirche Kommuniongemeinschaft ist, dann ist nur der in der Kirche, der kommuniziert.

Da es aber nur eine Kirche gibt muss jeder, der Christ ist, in irgendeiner Form Glied der einen Kirche sein.

Thomas Werner

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